16. Oktober 1931 in Madrid, in einer Straßenbahn: Abba, Pater!

Am Tag der hl. Hedwig hatte er in einer Kirche versucht zu beten, aber ohne Erfolg. Draußen auf der Straße kaufte er eine Zeitung und stieg in eine Straßenbahn. Aber er war unfähig, sie zu lesen, denn "ich fühlte in meinem Herzen das Gebet und die Liebe fließen, reich und feurig zugleich." Und es erschloss sich ihm "diese wunderbare Wahrheit: Gott ist mein Vater!" Es war das "erhabenste Gebet", das er je erlebte.

Schon als Kind hatte ich im Vaterunser gelernt, Gott Vater zu nennen, nun aber empfand, sah und war ich voller Staunen angesichts des göttlichen Ratschlusses, daß wir Kinder Gottes sind ... und das mitten im Verkehr, in einer Straßenbahn, eine Stunde lang oder länger, ich weiß es nicht mehr – ich mußte es einfach hinausschreien: Abba, Pater!

In der letzten Septemberwoche bemächtigte sich seiner die beglückende Einsicht, Kind Gottes zu sein. Lange ging er durch die Straßen Madrids, versunken ins Gebet der Einswerdung und der Danksagung. Es war der 22. September, wie aus einer Catalina hervorgeht: “Ich betrachtete betend die Wohltaten Gottes, und, erfüllt von innerer Freude, hätte ich mitten auf der Straße am liebsten laut herausgeschrien, damit alle von meiner kindlichen Dankbarkeit erführen: Vater, Vater! Und so habe ich tatsächlich, wenn nicht laut, so doch leise, immer wieder gerufen: Vater! Ich bin sicher, es hat ihm gefallen!”

Dann kam der 16. Oktober, ein bemerkenswerter Tag, besonders vom Gebet geprägt. Es war wohl einer von jenen Tagen, an denen Escrivá es nicht fertigbrachte, auch nur einige Zeilen in der Zeitung zu lesen, denn der Herr entrückte ihn in einen Zustand der Beschauung: “Tag der heiligen Hedwig, 1931. Nach der heiligen Messe bin ich in der Kirche geblieben mit der Absicht, meine Zeit der Betrachtung zu halten. Es ist mir nicht gelungen. Auf dem Atocha-Platz habe ich eine Zeitung gekauft (die ‘A.B.C.’) und bin in die Straßenbahn eingestiegen. Bis jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, habe ich kaum einen Absatz in der Zeitung gelesen. Ich fühlte in meinem Herzen das Gebet und die Liebe fließen, reich und feurig zugleich. Es hielt während der ganzen Fahrt an, bis ich nach Hause kam. (...)”

Etwas weiter in seinen Aufzeichnungen kommt er wieder auf sein Beten an diesem Tag zu sprechen, das nach seinen eigenen Worten das ‘erhabenste Gebet’ war, das er je erlebte. Er betrachtet diese außerordentliche Gnade der Einswerdung mit Gott, die er in der Straßenbahn erfuhr, als eine göttliche Lektion: Der Herr ließ ihn das Bewußtsein der Gotteskindschaft als einen dem Werk zutiefst eigenen Wesenszug verstehen:

“Ich merkte deutlich den Eingriff Gottes, der in meinem Herzen und auf meinen Lippen mit unwiderstehlicher Macht jenen liebevollen Ruf entstehen ließ: Abba! Pater! Ich befand mich mitten im Verkehr, in einer Straßenbahn (...) Wahrscheinlich betete ich laut.

Und dann bin ich durch Madrid geirrt, eine Stunde, vielleicht zwei, ich weiß es nicht mehr. Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Man hat mich bestimmt für einen Irren gehalten. Ich betrachtete in einem neuen Licht, das nicht von mir stammte, diese wunderbare Wahrheit, die sich für immer in meine Seele eingeprägt hat, wie eine Glut, die nie erlischt.” (...)

An jenem Tag erschloß sich ihm die tiefgründige und geheimnisvolle Bedeutung der Gotteskindschaft. Er erfaßte sie in einer neuen Tragweite innerhalb seiner spezifischen Sendung als Gründer, über sein bisheriges Verständnis dieser Realität hinaus. Viele Jahre später erläuterte er es den Seinen so:

“Ich könnte euch genau den Tag und sogar die Uhrzeit jenes ersten Betens als Kind Gottes angeben.

Schon als Kind hatte ich im Vaterunser gelernt, Gott Vater zu nennen, nun aber empfand, sah und war ich voller Staunen angesichts des göttlichen Ratschlusses, daß wir Kinder Gottes sind ... und das mitten im Verkehr, in einer Straßenbahn, eine Stunde lang oder länger, ich weiß es nicht mehr – ich mußte es einfach hinausschreien: Abba, Pater!

Das Evangelium enthält wahrhaft wunderbare Worte, alle sind wunderbar: Niemand kennt den Vater, nur der Sohn, und der, dem es der Sohn offenbaren will (Mt 11. 27). An jenem Tag wollte der Herr eindringlich, deutlich und ein für allemal, daß wir, ihr und ich, uns als Kinder Gottes betrachten, Kinder dieses Vaters, der im Himmel ist und der uns alles, um was wir ihn im Namen seines Sohnes bitten, gewähren wird.” (...)

In jenem neuen Licht ließ Gott den Gründer verstehen, daß das Bewußtsein der Gotteskindschaft, dem Geist des Werkes seit seinen Anfängen innewohnend, das Fundament seiner Spiritualität sein sollte. Der Gründer erläutert es so: “Ich verstand mit einem Mal, daß die Gotteskindschaft ein unentbehrlicher Wesenszug unserer Spiritualität sein sollte: Abba, Pater! Das Bewußtsein der Gotteskindschaft würde meine Kinder, wie durch eine unüberwindbare Mauer geschützt, mit Freude und mit Frieden erfüllen. Sie würden Apostel der Freude und in der Lage sein, den Frieden Christi, bei allem eigenen und fremden Leid, zu verbreiten. Eben deshalb: weil wir davon überzeugt sind, daß Gott unser Vater ist.”

Entnommen aus A. Vázquez de Prada, "Der Gründer des Opus Dei, Josemaría Escrivá", Bd. 1, Adamas Verlag Köln 2001, S. 368-371