Der hl. Josefmaria, ein Meister des Gebetes

„Immer wenn wir im Herzen den Wunsch verspüren, besser zu werden, und dem Herrn großzügiger zu dienen, und wenn wir dann einen Wegweiser, einen Leitstern für unser christliches Dasein suchen, ruft uns der Heilige Geist die Worte des Evangeliums in Erinnerung, daß man allezeit beten müsse und nicht nachlassen dürfe (‘Lk’ 18, 1). Daran erinnert der hl. Josefmaria in seiner Homilie "Leben aus dem Gebet".

In der Kirchengeschichte nimmt der heilige Josefmaria unter den Meistern der Spiritualität aus verschiedenen Gründen einen besonderen Platz ein. Vor allem handelt es sich um einen Heiligen unserer Tage (er wurde im Jahr 2002 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen), der unter Tausenden und Abertausenden von Menschen auf sehr konkrete Weise den allgemeinen Ruf zur Heiligkeit verbreitet hat.

Um die Heiligkeit zu erreichen, ist es unerläßlich, regelmäßigen Umgang mit Gott zu pflegen oder, anders gesagt, zu beten. Dieses Mittel besteht jedoch nicht nur darin, mündliche Gebete aufzusagen; es bedeutet vielmehr, mit Gott zu sprechen und dabei alle menschlichen Fähigkeiten einzusetzen: Seele und Leib, Kopf und Herz, Kenntnisse und Gefühle. Heilig zu sein heißt, Christus ähnlich zu sein. Je mehr wir ihn nachahmen, desto ähnlicher werden wir ihm. Mit Hilfe der Gnade und mittels unserer Bemühungen wird unsere sakramentale Gleichförmigkeit mit ihm, die wir in der Taufe empfangen haben, größer, wir erreichen eine größere Heiligkeit, eine größere Identifikation mit dem Meister. Daher hat dieses „gewohnheitsmäßige Gespräch“ mit ihm eine solche Bedeutung. „Heilig, ohne Gebet?... – An solche Heiligkeit glaube ich nicht.“ (Der Weg, 107)

Ein Kontemplativer unterwegs

Gott schenkte dem Gründer des Opus Dei die Gabe, auf praktische Art zu lehren, daß die Männer und Frauen, deren Leben mitten in den irdischen Tätigkeiten abläuft – in der Arbeit, in der Familie, in den unterschiedlichsten beruflichen und sozialen Umfeldern –, die Heiligkeit anstreben können. Dazu brauchen sie ihre zeitlichen Aufgaben nicht zu vernachlässigen, im Gegenteil: gerade die alltäglichen Vorkommnisse sollen dazu dienen, Gott zu suchen, ihn zu finden und zu lieben. Darum hat er verdient, daß der Heilige Stuhl ihn einen „Kontemplativen unterwegs“ nennt. Er tut es in dem Dekret, mit dem anerkannt wird, daß er alle christlichen Tugenden in heroischem Grad gelebt hat – eine Feststellung, die Voraussetzung für die Heiligsprechung ist.

Diese Zusammenfassung des Lebens des heiligen Josefmaria hat wichtige Konsequenzen. In erster Linie, daß es keinen Lebensstil geben kann, den man nicht heiligen könnte – es sei denn, er stünde im Gegensatz zum Gesetz Gottes; daß auch die höchsten Anforderungen erlauben, in der Gegenwart Gottes zu leben, im Trubel der Welt mit Gott in Beziehung zu treten, ohne den Platz zu verlassen, den man in der Gesellschaft einnimmt. Also: ein betender Mensch – Mann oder Frau – zu sein und als solcher zu leben ist nicht denen vorbehalten, die aufgrund eines besonderen göttlichen Rufes den Weg des Priestertums oder des Ordenslebens einschlagen. Das kontemplative Leben zeigt sich uns als ein für alle erreichbarer Weg, gerade weil es für den Weg der Heiligkeit unverzichtbar ist.

Der heilige Josefmaria wurde von Gott berufen, diese Botschaft zu verkünden, aber auch zu zeigen, wie man sie aufgreift, ohne auch nur eine ihrer Forderungen herunterzuschrauben. Sein Beispiel, seine Lehren, seine Schriften und vor allem die Wirklichkeit der zahllosen Menschen, die sich von seinem Geist inspirieren lassen, um sich mitten in den irdischen Gegebenheiten zu heiligen, sind ein klarer Ausdruck für die Angemessenheit dessen, was das Zweite Vatikanische Konzil später über den allgemeinen Ruf zur Heiligkeit aussagte. Sie spiegeln auch konkret wider, wie man den Vorschlag, den Johannes Paul II. angesichts des neuen Jahrtausends machte, verwirklichen kann. Er rief die Christen auf, in der „Kunst des Betens“ zu vertiefen, um ein „hohes Maß“ an Heiligkeit in den alltäglichen Situationen anzustreben.

Bevor ich einige grundsätzliche Aspekte der Lehre dieses Meisters christlichen Lebens über das Gebet beschreibe, ziehe ich den Beginn einer Homilie heran, die den bezeichnenden Titel „Leben aus dem Gebet“ trägt. Dort schreibt der heilige Josefmaria: „Immer wenn wir im Herzen den Wunsch verspüren, besser zu werden, und dem Herrn großzügiger zu dienen, und wenn wir dann einen Wegweiser, einen Leitstern für unser christliches Dasein suchen, ruft uns der Heilige Geist die Worte des Evangeliums in Erinnerung, daß man allezeit beten müsse und nicht nachlassen dürfe (Lk 18, 1). Das Gebet ist das Fundament jedes auf Gott ausgerichteten Tuns; mit dem Gebet sind wir allmächtig, und ohne das Gebet erreichen wir nichts.“ (Freunde Gottes, 238)

Artikel von Bischof Javier Echevarría: Der heilige Josefmaria, ein Meister des Gebetes im Alltag (I), erschienen in Magnificat Oktober 2006