Die Pupillen des Herzens

Meine erste, wenn auch sehr indirekte Begegnung mit dem seligen Josemaría Escrivá fand im Juni 1956 statt, als ich mit 17 Jahren zum ersten Mal ein Haus des Opus Dei betrat. Im Wohnzimmer der kleinen Etage in der damals noch so genannten Koblenzer Straße 129 (heute Adenauerallee) in Bonn, die das damals einzige Zentrum des Werkes in Deutschland beherbergte, stand das Bild eines Priesters. Und auf meine etwas erstaunte Frage hin, wer denn das sei, sagte mir mein Freund, der seit kurzem dort wohnte und mich an dem Tag in sein neues Zuhause eingeladen hatte, mit größter Selbstverständlichkeit: »das ist der Vater«; und als er mein ratloses Gesicht sah, setzte er noch hinzu: »Josemaría Escrivá, der Gründer des Opus Dei«. Weder der eine noch der andere Name sagten mir damals irgend etwas, und einen Priester als »den Vater« zu bezeichnen kam mir reichlich seltsam und übertrieben vor. Was ich damals nicht ahnen konnte, war, welch eine entscheidende Rolle dieser Priester und das von ihm gegründete Werk in meinem Leben spielen würden und daß er wirklich, im echten Sinn dieses Wortes, für mich zum »Vater« werden sollte.

Von dem Tag an, an dem ich zum ersten Mal die »Koblenzer Straße«, wie wir die kleine Etage des Werkes nannten, betrat, und vor allem als ich das erste Mal in der kleinen Kapelle vor dem Allerheiligsten eine Betrachtung gehört hatte (es war am Vorabend des Herz-Jesu-Festes 1956), begann sich bei mir vieles von Grund auf zu ändern. Persönliches vertrauensvolles Gebet, ein selbstverständlicher Zugang zu den Sakramenten, die Liebe zur Muttergottes und vor allem eine ehrliche Sorge um meine Freunde und ihr Verhältnis zu Christus: all das war mir bis dahin weitgehend fremd gewesen. »Religion« und alles, was damit zusammenhing, stellte allenfalls einen theoretischen Diskussionsgegenstand aus der »weltfremden« und damit für mich völlig uninteressanten Lebenswelt von Priestern und Ordensleuten dar. Und nun fand ich plötzlich all das mit größter Selbstverständlichkeit mitten im Alltagsleben von einer Handvoll junger Studenten und Akademiker verwirklicht, die ich wegen der Ernsthaftigkeit ihrer Arbeit in Universität und Beruf, ihrer offenen, ungekünstelten Herzlichkeit und ihrer selbstverständlichen Sorge um andere Menschen und deren Probleme bald ehrlich bewunderte und die mir schnell zu aufrichtigen Freunden wurden. Und mein ganzer Karteikasten von Vorurteilen fiel in sich zusammen.

Im Lauf der Zeit habe ich dann mehr und mehr begriffen, wie fast alles, was mich an der Art, in der die menschlichen und christlichen Grundhaltungen in der »Koblenzer Straße« gelebt wurden, ansprach, mit der Person und der geistlichen Haltung des »Vaters« verbunden war. Die Mitglieder des Werkes hatten mir das zwar immer wieder gesagt, aber in besonders eindrucksvoller Weise hat mich diese Erkenntnis berührt, als ich im August 1957 nach langem ungeduldigen Warten endlich die ersten Zeilen von Josemaría Escrivá lesen konnte: Der Weg war in deutscher Sprache erschienen, und ich lag an meinem Ferienort im Sauerland auf dem Fußboden, ordnete die großen, noch unbeschnittenen Druckbögen, die man mir auf mein Drängen hin noch druckfrisch zugeschickt hatte, und schlang in wenigen Stunden das ganze Buch in mich hinein. Ich weiß noch wie heute, daß ich ausgesprochen überrascht und fast enttäuscht war, denn ich fand in dem ganzen Buch überhaupt nichts »Neues«. Alles hatte ich schon gehört; oder besser gesagt – wie mir später klar wurde –: alles was ich von den Mitgliedern des Werkes gehört und zu leben begonnen hatte, war von der gleichen direkten, durch und durch weltoffenenen Glaubenseinstellung und Lebensart Josemaría Escrivás geprägt, wie sie eben auch in seinen Schriften zum Ausdruck kommt. Vielleicht war ich vor allem deshalb so überrascht, weil man bei den Mitgliedern des Werkes nie den Eindruck hatte, als sei ihnen ein theoretisches Lehrgebäude und Aktionsprogramm beigebracht worden. Erst mit der Zeit habe ich begriffen, daß, weit mehr als seine Lehren, es die Frömmigkeit, das Leben, die Persönlichkeit des Vaters war, wodurch das Werk und das Leben seiner Mitglieder geprägt wurde.

In den folgenden Wochen wurde mir, nicht zuletzt durch die Worte des Vaters im Weg über die Berufung des Christen, mein eigener Weg der Hingabe an Gott zunehmend bewußt, und am 2. Oktober 1957 bat ich um die Aufnahme in das Werk; ein Schritt, für dessen gnadenhaftes Zustandekommen ich seit nunmehr 44 Jahren dem Herrgott jeden Tag von neuem von Herzen dankbar bin. Und seit jenem Tag bin ich auch tief davon überzeugt, daß ich die Freude, Gottes Anruf so persönlich und endgültig begegnet zu sein, nicht zuletzt diesem Priester, dem »Vater«, verdanke.

Am 22. September 1958 lernte ich Josemaría Escrivá endlich persönlich kennen.

Was mich als erstes zutiefst beeindruckte, war die Kniebeuge, die der Vater in unserer winzigen Kapelle in der »Koblenzer Straße« vor dem Allerheiligsten machte. Es war mir damals und ist mir heute nicht möglich zu sagen, was denn eigentlich das »Besondere« daran war. Es war ganz einfach eine ganz »normale« Kniebeuge. Da war nichts, was man auch nur entfernt als ostentativ »fromm«, rituell oder steif empfinden konnte. Und doch war jede kleinste Geste innigstes Gebet: Ausdruck einer unbeschreibbar herzlichen, persönlichen Liebe im Umgang mit dem Herrn im Altarssakrament.

Auch wenn der Vater die Hl. Messe feierte – ich hatte in den Jahren 1965–1968 in Rom mehrfach das Glück, an der Hl. Messe des Vaters teilzunehmen –, gab es da eigentlich überhaupt nichts »Besonderes«. Er benötigte die gleiche Zeit wie andere Priester, feierte die Hl. Messe ganz schlicht nach den gültigen Rubriken ohne die geringsten »Subjektivismen«, aber bei aller Normalität und Schlichtheit betete er mit einer solchen Intensität und Konzentration der Liebe jedes einzelne Gebet und jede einzelne Geste, daß die Hl. Messe, auch wenn er kein Wort predigte, eine einzige bewegende Predigt über die Liebe unseres Gottes darstellte, dergestalt, daß es mich überhaupt nicht sonderlich verwunderte, als uns der Vater eines Tages (es war wahrscheinlich am 8. Juli 1967) sagte, er habe an diesem Tag eine große, ihn tief bewegende Entdeckung gemacht: Wie das Kreuzesopfer für Christus, so sei in gewisser Weise für den Priester auch die unblutige Erneuerung in der Feier des Meßopfers ganz Opus Dei, Arbeit Gottes, und zwar manchmal durchaus eine schwere, erschöpfende, alles fordernde Arbeit.

Um zu jenem 22. September 1958 in Bonn zurückzukommen. Wenn ich bis dahin noch nicht recht verstanden hatte, wieso die Mitglieder und viele Menschen den Gründer des Werkes einfach »Vater« nannten, so ist mir das in diesen ersten zwei Stunden, die ich mit ihm verbrachte, vollkommen und unauslöschlich klargeworden. Obwohl wir uns nie zuvor gesehen hatten und wir uns nur mit Übersetzungshilfe verständlich machen konnten, behandelte er mich vom ersten Augenblick an mit einer unsagbaren Herzlichkeit und Wärme: so als würden wir uns seit eh und je kennen, und als sei er nur nach Deutschland gekommen, um mich zu sehen. Ich kann ohne jede Übertreibung sagen: nie in meinem Leben ist mir von einem Menschen mehr Aufmerksamkeit, mehr Liebe entgegengebracht worden als von diesem Priester, auch von meinen eigenen innig geliebten Eltern nicht.

Anfang Mai 1960 war ich mit Freunden zur Bischofsweihe eines befreundeten afrikanischen Priesters für einige Tage nach Rom gekommen. Zu meiner Enttäuschung erfuhr ich bei meiner Ankunft, daß der Vater verreist sei. Als ich mich am Sonntag, dem 8. Mai, gegen Abend im Zentralhaus des Werkes verabschiedete, bemerkte derjenige, der mich begleitete, daß der Wagen, den der Vater benutzte, in der Garage stand; er mußte vor wenigen Minuten zurückgekommen sein. Meine Freude wich der abermaligen Enttäuschung, als mir der Rektor des Collegium Romanum nach einem Anruf kurz darauf sagte, der Vater habe an diesem Tag fast tausend Kilometer im Wagen zurückgelegt und sei außerdem an einer leichten Grippe erkrankt. So leid es mir tat: es war leicht einzusehen, daß ich den Vater bei dieser Gelegenheit nicht mehr sehen konnte, da ich am nächsten Morgen sehr früh nach Deutschland zurückfahren mußte. Wenige Minuten später – ich stand gerade am Eingang des Hauses und verabschiedete mich erneut – kam jemand gelaufen: »Peter, der Vater möchte dich sehen.« Und wenige Augenblicke später kam der Vater. Er begrüßte mich mit seiner großen Herzlichkeit und sagte: »Das gibt es doch nicht, daß du wegfährst, ohne daß wir uns gesehen haben.« Und er fügte hinzu, er würde mich schrecklich gern umarmen, aber er wolle mich nicht mit seiner Grippe anstecken.

Obwohl der Vater todmüde sein mußte und kaum Zeit gehabt haben konnte, sich nach der langen Reise zu erfrischen, geschweige denn, etwas zu sich zu nehmen oder sich auszuruhen, hatte er fast zwei Stunden für mich Zeit, zeigte mir die Räume des Zentralhauses und erklärte mir viele konkrete Aspekte vom Geist des Werkes. Mit einem Wort: den Gründer und damaligen Generalpräsidenten des Opus Dei interessierte in diesem Moment weder sein nach der langen Abwesenheit sicher übervoller Schreibtisch, geschweige denn seine Person. Wichtig war hier und jetzt für ihn ganz allein, diesem linkischen, zwanzigjährigen Studenten aus Deutschland, der erst kurze Zeit dem Werk angehörte und noch sehr wenig von seiner Berufung und vom Opus Dei begriffen hatte, Freude zu bereiten.

Zum Schluß schenkte mir der Vater einen kleinen Esel, den ihm seine Kinder aus Japan geschickt hatten, als sie dort die Arbeit begannen; es ist ein kleiner, recht tollpatschig und unbeholfen wirkender Esel, der – noch unfähig, Lasten zu tragen – auf seinen Hinterbeinen sitzt, eines seiner großen Ohren aufmerksam zuhörend vorstreckt und den Eindruck macht, als wolle er sofort loslaufen und das tun, was man ihm sagt. Der Vater sprach eine ganze Weile über den kleinen Esel und sagte, genau das seien wir vor Gott: nichts anderes als kleine Esel. Eigentlich zu sehr wenig nütze. Aber wovon alles abhinge, das sei, daß wir unser ganzes Leben lang ganz aufmerksam, ganz fügsam und ganz dankbar seien gegenüber dem Willen und der Gnade Gottes: bereit, uns vom Herrn aufladen zu lassen, was er wolle und uns hinschicken zu lassen, wohin er wolle.

Der kleine Esel steht jetzt seit über 40 Jahren auf meinem Schreibtisch … und versucht jeden Tag, mich zu erinnern.

Wenn ich heute gefragt würde, was für mich die Persönlichkeit des seligen Josemaría am treffendsten charakterisiere und was auf mich den nachhaltigsten Eindruck gemacht habe, dann würde ich ohne zu zögern sagen: Seine Warmherzigkeit, seine einzigartige Fähigkeit zu lieben. Und wenn man mich nun fragen würde, ob ich damit die gewinnende, menschliche Herzlichkeit oder die theologische Gottes- und Nächstenliebe meine, dann wüßte ich auf diese Frage beim besten Willen keine Antwort. Beides: Menschsein und Christsein, seine mitreißende Liebe zu Jesus Christus und seine verströmende Herzlichkeit gegenüber den Menschen waren beim Vater in so untrennbarer Weise miteinander verwoben, daß ich nie mit ihm zusammengewesen bin (und sei es nur bei einer kleinen »Zufallsbegegnung« auf irgendeinem Flur im Zentralhaus des Werkes), ohne mich menschlich unsagbar beschenkt zu fühlen und zugleich angetrieben, Gott und den Menschen treuer und mit selbstverständlicherer Hingabe zu dienen. »Seid sehr, sehr menschlich, das ist die einzige Weise, um sehr übernatürlich zu werden«: das sagte er uns immer wieder, und das war seine zur praktischen Selbstverständlichkeit gewordene Lebensphilosophie. Und mit dem gleichen Atemzug lebte er uns vor, wie man selbst kleinste menschliche Begegnungen, ja die unscheinbarsten materiellen Gegebenheiten mit Liebe zu Gott zu füllen, sie zu »heiligen« vermag.

Der Vater konnte fröhlich und fast ausgelassen mit uns scherzen – nicht selten haben wir im Beisammensein mit ihm Tränen gelacht – und im selben Augenblick, ohne daß es den geringsten Bruch bedeutete, mit seiner ganzen Inbrunst und Herzlichkeit von der Liebe zum Altarssakrament, zur Muttergottes, zur Kirche und zum Papst sprechen oder uns irgendeinen konkreten Aspekt vom übernatürlichen Geist des Opus Dei verdeutlichen. Er konnte sich köstlich amüsieren über die parodierende Aufführung des Schlagers, der am Vorabend den 1. Preis im Festival von San Remo gewonnen hatte, und am Ende des Beisammenseins nahm er vielleicht den Text dieses recht unbedarften Liebesliedchens und machte daraus vier, fünf wunderbare Punkte für unser betrachtendes Gebet am Nachmittag. Er freute sich aufrichtig, wenn er in den Nachrichten erfuhr, daß es in irgendeinem Konflikt auf der Welt zu einem Waffenstillstand gekommen war oder auch nur zu einer Einigung in schwierigen Tarifverhandlungen. Und nachdem er in der Tagesschau Bilder von einem großen Erdrutsch in den Anden gesehen hatte, durch den ein Indiodorf restlos verschüttet wurde, so daß nur noch die Spitze des Kirchturms aus den Schlammassen ragte, da verbrachte er die Nacht auf den Knien, betete den Herrn in dem verschütteten Tabernakel an und bat Gott für die Opfer und die Hinterbliebenen. Das war seine Art und Weise »die Welt leidenschaftlich zu lieben«.

Alles, was irgendeinen der Menschen, die ihm begegneten, anging, interessierte ihn genauso – nein: unendlich viel mehr als das, was ihn selbst betraf.

Eine eigentlich ganz nebensächliche Kleinigkeit hat mich in diesem Zusammenhang persönlich besonders beeindruckt. In der Karwoche 1973 kamen wir zu einem großen internationalen Jugendtreffen nach Rom: allein aus Deutschland über 120 Studenten. In dem großen Wohnzimmer von Villa Tevere, dem Zentralhaus des Werkes, saßen wir, wohl 200 Personen, größtenteils auf dem Boden; ich ziemlich weit hinten in einer Ecke. Ich hatte den Vater seit mehreren Jahren nicht gesehen. Als er mich entdeckte, grüßte er mich mit einem strahlenden Blick und sagt: »Hallo, Peter, schön, daß du hier bist.« Und dann sofort: »Wie geht es deinem Vater. Sag ihm, daß ich ihn sehr mag und viel für ihn bete. Ich hoffe, daß er sich nicht zu einsam fühlt.« (Der Vater hatte mich mehrere Jahre nicht gesehen; meinen Vater hatte er sieben Jahre vorher bei einem Rombesuch kurz kennengelernt, und in diesem Moment erinnerte er sich nicht nur an mich und an meine Eltern, sondern auch daran daß meine Mutter ein Jahr zuvor gestorben war.) Zehn Minuten später schaut mich der Vater durchdringend an und sagt: »Peter, dir geht es nicht gut. Ich glaube, du bist krank.« Und dann zum Arzt des Hauses: »Schau dir den Peter gleich einmal gründlich an.« (Tatsächlich hatte ich mich auf der Reise erkältet, hatte an dem Tag vielleicht ein Grad Fieber und fühlte mich nicht besonders gut. Eine Kleinigkeit. Niemandem war es aufgefallen. Der Vater »entdeckte« es auf 10 Meter Entfernung mitten in einer Menge von 200 Personen.)

Wie ist eine solche großherzige, feinfühlige Sensibilität zu erklären? Vor einigen Jahren bekam ich zufällig die Mitschrift eines Telefongespräches zu Gesicht, das der Vater am 30. Juni 1963, einem Tag, an dem beide krank waren, mit Don Jaime Sanchez innerhalb des Zentralhauses des Werkes in Rom führte.

Dort sprach der Vater – versteckt, wie er sagte, hinter der Anonymität des Telefons – davon, wie sehr er jedes einzelne seiner Kinder im Opus Dei liebe: es sei wirklich so, als sei jeder einzelne auch der Einzige. Und der Vater setzte hinzu, er wundere sich selbst darüber, wie das möglich sei bei einer so großen Zahl von Menschen, die heute das Werk bildeten. Am Anfang sei es nicht schwer gewesen, die Handvoll Menschen, die sich um ihn zu scharen begannen, so persönlich und herzlich gern zu haben. Aber bereits damals habe er hinter diesen Wenigen die vielen Tausende gesehen, die kommen würden, und er habe sich dann manchmal ängstlich gefragt, wie denn all diese Menschen in seinem Herzen Platz finden sollten. Jetzt erlebe er jeden Tag von neuem die große Freude, daß es eben ganz selbstverständlich so sei, daß er tatsächlich jeden einzelnen der vielen Tausend von heute genauso liebe wie die Wenigen zu Beginn des Werkes. Gott mit seiner Liebe könne eben das Wunder wirken, daß das menschliche Herz immer größer und weiter werde, ohne an Echtheit und Wärme zu verlieren. »Die Liebe macht die Pupillen des Herzens weit«, pflegte er zu sagen.

Und in einem Beisammensein am 12. April 1971 in Rom gab uns der Vater auf die Frage: »Wie können wir lernen, herzlicher zu sein, und die Gefahr vermeiden, mit der Zeit hart zu werden?« zur Antwort: Er habe – wie wir alle – von Gott nur ein Herz bekommen, um zu lieben. Und nur mit diesem einen, einzigen Herzen könne er Gott lieben und die Muttergottes, habe er seine Eltern geliebt und liebe er uns und alle Menschen, die Gott ihm über den Weg schicke. Aber je inniger unser Umgang mit Gott sei, um so weiter werde das Herz. »Wenn wir Gott wirklich lieben, dann wird seine Liebe dafür sorgen, daß unser Herz immer größer und weiter wird – immer mehr ein Herz nach Art und Maß seines Herzens –, und dann wird es immer mehr Platz in unserem Herzen geben, um immer liebevoller und herzlicher zu immer mehr Menschen zu sein.«

Besonders auch, wenn der Vater von der menschlichen Freundschaft sprach, deren sich Christus bedienen wolle, »um unseren Freunden seine Gnade zu schenken, um sie zu seinen Freunden zu machen«, wenn der Vater in seiner unnachahmlichen Weise aus den Szenen des Evangeliums die Freundschaft Jesu zu den einzelnen Menschen seiner Umgebung lebendig werden ließ, konnte man diese Überzeugung spüren. Der Vater war einfach unfähig, Freundschaft jemals rein instrumental, als Mittel zu einem auch noch so guten, noch so apostolischen Zweck zu begreifen. Die Wahrhaftigkeit und Echtheit der Freundschaft war für ihn die absolute Voraussetzung dafür, daß Gott sie als Werkzeug seiner Gnadenmitteilung gebrauchen könne. In einem Beisammensein in Rom im April 1973 fragte ihn jemand, wie man in seinem apostolischen Bemühen auch eine echte Haltung des Opfers und der Abtötung leben könne. Die Antwort war ebenso spontan wie eindringlich: »Ganz einfach: sei ein besserer Freund deiner Freunde! Was willst du mehr an Abtötung.«

Und oft hat er uns fast flehendlich gesagt: »An dem Tag, an dem euch irgend etwas von der Freude oder dem Kummer der Menschen, mit denen ihr zusammen seid, irgend etwas von dem, was sie wirklich betrifft, was ihnen wichtig ist, gleichgültig wäre, an dem Tag hättet ihr das Opus Dei umgebracht.«

Diese Haltung spiegelte sich auch in seinem feinfühligen Umgang mit Andersgläubigen wider. Am 19. März 1967 sagte er uns auf die Frage eines deutschen Studenten, wie wir konkret mit Nichtgläubigen und nicht katholischen Menschen umgehen sollten: »An erster Stelle müssen wir sie lieben, ganz aufrichtig lieben. Es gibt in jedem Menschen so viel Gutes und Edles, was wir lieben können. So manchem Protestanten oder auch Juden oder Mohammedaner fühle ich mich menschlich – und mitunter sogar übernatürlich – mehr verbunden als manchen Katholiken. Unsere Liebe, unser Verständnis und unsere aufrichtige, loyale Freundschaft sind die Voraussetzung für jede Hilfe. Und an erster Stelle natürlich unser Gebet und unser Opfer. Wir dürfen nie vergessen, daß der Glaube ein übernatürliches Gnadengeschenk ist und keine reine Angelegenheit von Vernunftargumenten und menschlichem Wollen. Daher dürfen wir den Andersgläubigen niemals mit Bekehrungsversuchen lästigfallen. Wir müssen erreichen, daß sie selbst es sind, die uns nach unserem Glauben fragen. Aber das wird nur dann der Fall sein, wenn wir ihnen mit aufrichtiger, persönlicher Freundschaft begegnen und wir ihnen in den tausend Kleinigkeiten des Alltags das ungeheuchelte Beispiel christlichen Glaubens und christlicher Liebe geben.«

Von Anfang an hat der Vater die Eltern und die Angehörigen der Mitglieder des Werkes ganz selbstverständlich als Glieder seiner eigenen Familie betrachtet. Meine Eltern hatten das Glück, den Vater im Mai 1966 in Rom kennenzulernen, und die Liebe und Herzlichkeit des Vaters ist für sie zeitlebens unvergeßlich geblieben. Besonders mein Vater hatte sich am Anfang nicht leichtgetan, meine Berufung der Ganzhingabe an Gott in der apostolischen Ehelosigkeit als Laie mitten in Beruf und Arbeitswelt zu verstehen. Und all unsere Erklärungsversuche hatten bei ihm im Grunde wenig erreicht. Nach den kaum zwanzig Minuten mit dem seligen Josemaría war mein Vater wie ausgewechselt: er hatte nicht nur meine Berufung in allen Wesensmerkmalen bestens verstanden, sondern von dem Tag an hat er bis zu seinem Tod bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten, die sich ihm in seinem Berufsalltag als Journalist oder bei privaten Anlässen boten, den unterschiedlichsten Menschen das Opus Dei und seinen Geist in aller Deutlichkeit erläutert. Ich habe mich oft gefragt, wie es zu dieser radikalen Änderung in der Einstellung meines Vaters innerhalb so weniger Minuten gekommen ist. Ich glaube der Schlüssel dazu waren drei Dinge: einmal die dezidierte Äußerung des Vaters, ihn interessierten keine »katholischen Journalisten«, sondern Journalisten, die wirklich katholisch seien; dann die ebenso präzise Erklärung, daß die Häuser des Werkes völlig nebensächlich seien: Opus Dei fände hauptsächlich mitten auf der Straße statt, eben überall dort, wo jemand vom Werk in seinem Alltag einem Menschen mit der Herzlichkeit Christi begegne und ihm helfe, Gott näherzukommen. Und schließlich – und ich glaube das war das eigentlich Entscheidende – die innige Umarmung, die der Gründer des Werkes meinem Vater (der das ganz und gar nicht gewohnt war) am Ende gab und die herzliche, tief aufrichtige, wie um ein Almosen bettelnde Bitte, viel für ihn zu beten, denn er brauche die ganze Barmherzigkeit Gottes, wenn er vor seinem Schöpfer bestehen wolle.

Daß die Begegnung mit dem Vater meine Eltern tief beeindruckt hatte, war für mich leicht zu verstehen; aber wie es möglich war, daß der Vater bei den Hunderten von Besuchen, die er jeden Monat empfing, sich noch nach Jahren, wie ich es oben beschrieben habe, genau an meine Eltern erinnerte und – mehr als das – ganz persönlich für sie betete, habe ich mir, rein menschlich gesehen, nie erklären können.

Deutlicher, als ich es zu beschreiben vermöchte, kommt diese Liebe des Vaters in zwei Briefen zum Ausdruck, die er mir beim Tod meiner Mutter – besonders für meinen Vater – geschrieben hat. Ich habe lange überlegt, ob ich sie hier wiedergeben soll, aber sie geben meinem Empfinden nach besonders eindringlich Zeugnis von der menschlichen und übernatürlichen Persönlichkeit des Seligen.

Dabei ist vielleicht wichtig zu wissen, daß weder ich noch meine Eltern in irgendeinem partikulären Verhältnis zum seligen Josemaría gestanden haben. Ich war zu seinen Lebzeiten eines von vielen Tausend Mitgliedern des Werkes und einer von damals bereits wenigstens 800 Priestern im Opus Dei. Und der Gründer hatte meinen Vater im Oktober 1965 und dann meine beiden Eltern und meine jüngste Schwester im Mai 1966 nur jeweils bei einem kurzen Besuch kennengelernt.

Der erste Brief, vom 4. Dezember 1972, lautet:

Lieber Peter: Jesus möge Dich beschützen!

Erst heute, bei meiner Rückkehr nach Rom, erhielt ich die Nachricht vom Heimgang Deiner guten Mutter (r.i.p.), und ich möchte Dir sofort einige Zeilen senden, um Dir zu sagen, daß ich in diesen Augenblicken ganz innig mit Dir verbunden bin. Bitte übermittle auch Deinem Vater und allen Deinen Angehörigen mein herzliches Beileid.

Ich bete für die ewige Ruhe ihrer Seele, obwohl ich sicher bin, daß Deine Mutter es schon nicht mehr benötigt. Und ich bete auch für Dich und für Deine ganze Familie – besonders für Deinen Vater, den ich so sehr schätze –, damit ihr Trost und Frieden findet.

Es liebt, umarmt und segnet Dich,

Mariano. (Mit diesem seinem zweiten Taufnamen pflegte er oft zu unterschreiben.)

Der zweite Brief kam nur 14 Tage später, am 18. Dezember 1972, und hat folgenden Wortlaut:

Lieber Peter: Möge Jesus Dich beschützen!

Ich sende Dir diese Zeilen, damit Du sie Deinem Vater übersetzt. Ich habe gedacht, daß er sich in diesem Jahr zur Weihnacht besonders einsam fühlen wird, und deshalb möchte ich, daß Du ihm noch einmal sagst, wie viel ich an ihn denke und wie sehr ich ihn liebe.

Denke daran, mein Kind, daß die Mutter eines Priesters sehr viel vermag bei Gott: hört nicht auf, durch ihre Fürsprache darum zu beten, daß er uns hilft, sehr treu zu sein; bittet sie um ihre Fürsprache für die Kirche, die so sehr des Gebetes bedarf.

Sag Deinem Vater, daß ich mich darauf verlasse, daß er mich in sein Gebet einschließt: ich weiß, wie sehr er die Kirche liebt und wie sehr er uns alle ins Herz geschlossen hat.

In inniger Liebe zu Deinem Vater und zu Dir segne ich Euch aus ganzem Herzen,

Mariano.

Ich glaube, ein Kommentar würde hier eher stören als etwas verdeutlichen.

Zum Schluß noch die Erinnerung an zwei Abschiede.

Als wir uns am Samstag, dem 29. Juni 1968, vom Vater verabschiedeten und um seinen Segen baten, weil wir am nächsten Tag zu unserer Priesterweihe fuhren, sagte er, er wolle uns drei Dinge ans Herz legen. Erstens: wir sollten alles daransetzen, um immer ganz ungeschminkt, ja wild aufrichtig zu sein; zweitens: wir sollten überall, wo wir hinkämen, eine große Liebe zur Freiheit predigen, und drittens: vor allem sollten wir uns nicht über unsere Armseligkeiten wundern, dann würde uns die Freude niemals fehlen. Und er fügte hinzu: »Bitte vergeßt nie: Gerade unsere Schwäche ist unsere Stärke; denn ganz kleinen, schwachen Kindern bleibt gar nichts anderes übrig, als sich restlos auf den Vater und die Mutter zu stützen.«

Dann ließ er uns mit der ihm eigenen Schlichtheit einen Blick in sein eigenes inneres Leben tun. Er bete, sagte er uns, in letzter Zeit besonders oft das Stoßgebet: »Herr laß mich nicht von deiner Hand! Herr, trau mir nicht zu sehr!«

Zum letzten Mal habe ich den seligen Josemaría am 4. April 1973 in Rom gesehen. Es war in einem sehr normalen, familiären Beisammensein nach dem Mittagessen, in dem viel gelacht wurde und währenddessen der Vater mich ständig mit Marzipan-Ostereiern fütterte, weil er wußte, daß ich so gerne Marzipan esse. Am Ende nahm er mich in den Arm und sagte mir mit der besonderen Eindringlichkeit, die ihn immer gefangen nahm, wenn es um die Hl. Messe und das Priestertum ging, ins Ohr: »Peter, wir dürfen uns nie daran gewöhnen, Priester zu sein! Das Priestertum ist ein einziges großes Wunder. Bitte bewahr dir das Staunen über diese göttliche Vollmacht, die der Herr dir anvertraut hat: jeden Tag von neuem gehorcht dir Gott selbst, wenn du das Meßopfer feierst. Versprich mir, daß du alles Menschenmögliche tun willst, um dich nie daran zu gewöhnen und dir die Begeisterung vom ersten Tag deines Priesterseins zu bewahren. Bitte, vergiß es nie: es ist ein einziges großes Wunder!«

Dann legte er zum Abschied die Hände auf meinen Kopf, segnete mich und gab mir zwei dicke Küsse auf die Wangen.

Dr. Peter Blank ist Priester der Prälatur Opus Dei und einer der ersten, die in Deutschland um die Aufnahme ins Werk baten, nachdem die ersten Mitglieder 1952 ihre Arbeit in diesem Land begonnen hatten. Er ist dem Gründer häufig und unter verschiedenen Umständen begegnet.

Artikel aus dem Band Josemaría Escrivá – Profile einer Gründergestalt, César Ortiz (Hrsg.); Adamas Verlag, Köln 2002