Ein Buch von Feuer

Während ich diese Zeilen schreibe, liegt vor mir ein altes Exemplar vom ‘Weg’, den sein Autor im Jahre 1933 einem jungen Architekten namens Ricardo Fernandez Vallespin schenkte.

Während ich diese Zeilen schreibe, liegt vor mir ein altes Exemplar vom Weg, den sein Autor im Jahre 1933 einem jungen Architekten namens Ricardo Fernandez Vallespin schenkte. Auf der ersten Seite steht in der unverkennbaren Handschrift des hl. Josefmaria unter dem Titel eine einfache dreizeilige Widmung, die ihn später zu einem Gedanken im Weg inspirierte:

„Als ich Dir jenes „Leben Jesu“ schenkte, schrieb ich als Widmung hinein: „Christus suchen, Christus finden, Christus lieben.

Drei deutliche Schritte. Hast Du versucht, wenigstens den ersten zu verwirklichen?“ (p. 382)

Diese Widmung macht deutlich, wie der hl. Josefmaria das Leben eines Christen sah: als eine Reise auf der Suche nach der Vereinigung mit Jesus Christus. Aus diesem Grunde verschenkte er aber auch nicht nur Bücher geistlichen Inhalts, sondern schrieb selbst ein Buch, den Weg, um anderen Mut zu machen, Christus zu suchen und ihnen zu helfen, Christus zu finden. Im Vorwort zum Weg hatte der hl. Josefmaria formuliert: „Ich habe Dir nichts Neues zu sagen.“, und doch steckt etwas Revolutionäres, Umwälzendes in der Botschaft des hl. Josemaria, wie er auch selbst gern anzumerken pflegte, dass seine Botschaft „so alt sei wie das Evangelium – und gleichzeitig so neu.“ Allerdings liegt die Originalität nicht so sehr im Text selbst, sondern eher in der erstaunlichen Kombination von Text und Leserschaft. So ist uns beispielsweise in dem oben zitierten Punkt der Inhalt sehr vertraut, jedoch ist die Tatsache, dass diese Ideen einem jungen Architekten vermittelt werden, etwas völlig Neues und bisher nie Dagewesenes.

Im Jahre 1934 schrieb der hl. Josemaria einen Brief an den Generalvikar von Madrid und erwähnte darin, dass er an einem neuen Buch arbeite, das Geistliche Betrachtungen heißen sollte. Aus diesem wurde dann 1939 nach einigen Überarbeitungen und Ergänzungen Der Weg. In seinem Brief erläuterte er, dass die Anmerkungen, die er hier zusammenstellte, „nur für bestimmte Seelen hilfreich sein werden, die erstens inneres Leben haben und zweitens in ihrem beruflichen Leben Hervorragendes leisten wollen, da dies eine ernste Verpflichtung ist.“ Dies ist die für den hl. Josefmaria so charakteristische Kombination: der Wunsch nach authentischer Heiligkeit, die sich in einem intensiven Gebetsleben ausdrückt, und gleichzeitig eine ernsthafte Widmung an eine gewöhnliche Berufsarbeit. Es versteht sich von selbst, dass der hl. Josefmaria die berufliche Arbeit in einem weiteren Sinn verstand und damit auch die Tätigkeit von Studenten, Hausfrauen oder Diözesanpriestern meinte, d.h. generell von allen, die verstehen können, dass Gott sie zu der liebevollen Erfüllung ihrer täglichen Pflichten in der Welt berufen hat, und dies nicht aus persönlichem Ergeiz heraus, sondern als eine Möglichkeit, Gott die Ehre zu erweisen und anderen Menschen zu dienen.

Wir finden das gleiche überraschende Zusammentreffen von Botschaft und Adressaten in einem anderen Punkt im Weg: „Du fragst mich: Warum dieses Holzkreuz? – Ich schreibe aus einem Brief ab: »Wenn ich die Augen vom Mikroskop erhebe, stößt der Blick auf das leere schwarze Holzkreuz. Dieses Kreuz ohne Gekreuzigten ist ein Symbol. Es birgt einen Sinn, den die anderen wohl nicht sehen. Aber der Ermüdete, der schon daran war, seine Arbeit aufzugeben, führt seine Augen wieder zum Okular und arbeitet weiter, denn das leere Kreuz fordert Schultern, die es tragen.«“ (P. 277) Wieder ist es nicht das Kreuz Christi selbst und seine hier erwähnte Bedeutung, die so neu sind, sondern das Neue ist der junge Mann vor seinem Mikroskop – es handelt sich konkret um Juan Jimenez Vargas, einen Arzt. (Ein unabdingbares Werkzeug zur Analyse vom Weg ist die kritisch-historische Ausgabe von Camino, herausgegeben von Pedro Rodriguez, Ediciones Rialp, Madrid, 2002.)

Die Originalität des hl. Josefmaria und des Geistes des Opus Dei, das er 1928 gründete, liegt gerade in dieser Kombination einer uralten Botschaft – des Rufes zur heroischen Heiligkeit – und einer neuen, laikalen Zuhörerschaft, die diese Botschaft inmitten des Wirrwarrs des Berufsalltags aufgreift. Zwischen den Zeilen dieses Buches können wir erkennen, wie sich eine neue Kultur der Heiligkeit entwickelt, eine neue Generation von Christen, die sich darum bemühen, Apostel und Heilige mitten in der modernen Welt zu sein.

Dies ist das Wesen der Botschaft des hl. Josefmaria. Seinem Motto „Christus suchen, Christus finden und Christus lieben“ – wobei wir die Worte der Widmung in dem alten Buch von 1933 wieder aufgreifen – muss im Kontext des gewöhnlichen Alltagslebens und der Arbeit gefolgt werden. In seiner Predigt aus dem Jahre 1967 mit dem Titel „Die Welt leidenschaftlich lieben“ fasst der hl. Josefmaria seine Botschaft folgendermassen zusammen: „Der Alltag ist die wahre Bühne, auf der sich euer Leben als Christen abspielen muss. Ihr könnt Christus täglich begegnen gerade bei euren Kollegen, in euren Projekten und Zielen, eurer Arbeit und in allem, was ihr liebt. Gott ruft euch, um Ihm in und durch die gewöhnlichen, weltlichen und bürgerlichen Tätigkeiten des menschlichen Lebens zu dienen. Er erwartet uns jeden Tag im Labor, im Theater, in den Armee-Baracken, im Hörsaal der Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, bei der Hausarbeit und in dem ganzen, weiten Panorama aller menschlichen Arbeit. Versteht mich richtig: In den allergewöhnlichsten Situationen unseres Lebens liegt etwas Heiliges, Göttliches verborgen, und es liegt ganz an dir und an jedem von uns, dies zu entdecken. .. Es gibt keinen anderen Weg, meine Töchter und Söhne: entweder lernen wir, den Herrn im gewöhnlichen, alltäglichen Leben zu entdecken oder wir werden Ihn nie finden.“

Dem hl. Josemaria war durchaus bewusst, dass diese Botschaft viele Menshen tief beeindrucken würde. Acht Jahre vor dem Erscheinen vom Weg schrieb er: „Ich würde gern Bücher wie von Feuer schreiben, die sich wie ein loderndes Steppenfeuer über die ganze Welt ausbreiten würden.“ Jedoch wird ein Leser, der den Weg, öffnet und ein Buch von Feuer erwartet, überrascht sein, denn dieses Buch ist keineswegs ein dramatisches Manifest oder gar ein rhetorischer Aufruf „zu den Waffen“, der zum Ziel hat, die Massen auf die Beine zu stellen. Ganz im Gegenteil, denn schon das vom Autor formulierte Vorwort stimmt einen viel ruhigeren Ton an: „Lass dir diese Anregungen durch den Kopf gehen. Es sind Worte, die ich dir leise und im Vertrauen sage, als Freund, als Bruder, als Vater.“ Um es ganz klar zu sagen: Wenn der Weg im gewissen Sinn eine Mobilisierung zum Kampf ist, dann dann handelt es sich aber um einen Ruf zu einem stillen und verborgenen Kampf, nämlich des kontemplativen Gebetes und der täglichen Arbeit.

Gleichzeitig darf man dieses Buch in seiner ansteckenden Leidenschaft nicht unterschätzen. Hinter der unprätentiösen Darstellung steckt eine große Leidenschaft für Gott und eine apostolische Leidenschaft für die Seelen. Die kraftvolle Sprache ist eine wichtige Quelle für den starken Eindruck, den das Buch hinterlässt. Der Stil des hl. Josefmaria ist sowohl vertraut, weil er sich ständig auf das Neue Testament bezieht und sein Wissen von den klassischen geistlichen Autoren bezieht, als auch ganz neuartig und frisch, manchmal farbig, anschaulich und umgangssprachlich. Der Ton ist persönlich, kraftvoll und innig, er bringt die Sache direkt und ohne Umschweife auf den Punkt: „Dein Leben darf kein fruchtloses Leben sein. – Sei nützlich. – Hinterlasse eine Spur. – Leuchte mit dem Licht deines Glaubens und deiner Liebe.

Tilge durch dein Leben als Apostel den zähen Unrat, den die verseuchten Prediger des Hasses verbreitet haben. – Entzünde alle Wege der Erde mit dem Feuer Christi, das du im Herzen trägst.“ (P. 1)

So gesehen, handelt es sich in der Tat um ein Buch von Feuer, jedoch ein stilles Feuer von Worten, die gleichsam im Gebet zugeflüstert werden. Die einzelnen Punkte sind wie glühende Kohlestückchen, die darauf warten, aufgebrochen zu werden, um darin wie in einem Juwel das verborgene Feuer zu entdecken. Der einzigartige Ton stammt zum Teil von der Art und Weise, wie dieses Buch entstanden ist, denn der Weg ist weniger geschrieben als eher zusammengestellt worden. Die 999 Punkte (wie Aphorismen) waren nicht in Kapiteln geschrieben, sondern sie entstanden einzeln, niedergeschrieben in Notizbücher oder Tagebücher oder einfach auf lose Zettel; gelegentlich beziehen sie sich auf Gedankenfetzen einer Predigt oder auf einen Rat, den der hl. Josefmaria in der geistlichen Leitung gegeben hatte; all diese Gedanken ganz verschiedener Herkunft wurden dann später in Kapitel geordnet und schließlich zu einem Buch zusammengestellt.

Kurz gesagt, niemand sollte den Weg als eine systematische Abhandlung über irgendeine spekulative Theologie missverstehen und noch weniger als eine Art „Opus-Dei-Handbuch“. Mit seinem Buch wandte sich der hl. Josefmaria an eine viel weitere Leserschaft, und wenn er sich auf das Buch bezog, sprach er ganz einfach von Erwägungen oder auch von Notizen. Die einzelnen Punkte im Weg sind nicht einmal im eigentlichen Sinne Aphorismen oder Maximen – dafür beziehen sie sich zu offensichtlich auf die besonderen Umstände eines konkreten Individuums; sie sind einfach zu persönlich, zu sehr „Frucht einer Gelegenheit“. Sehr oft kann man sie verstehen als gedankenvolle Worte einer ins Gebet versunkenen Seele oder Gesprächsfetzen aus einer persönlichen Unterhaltung. Tatsächlich beschreibt der Autor in seinem Vorwort das vorgelegte Buch mit gerade diesem Begriff, nämlich als „vertrauliches Gespräch“. Selbstverständlich sind alle Namen und Daten herausgenommen, aber der Leser kann sich während der Lektüre leicht die tausend Kleinigkeiten des täglichen Lebens vorstellen: die Arbeitswelt, Freundschaften, das gesellige Leben, Krankheit, Krieg, Leiden, Studentenalltag oder Familienangelegenheiten ... Die Geistlichen Betrachtungen wenden sich an Menschen, die mitten im beruflichen und gesellschaftlichen Leben stehen, und während er zuhört, ist der Leser eingeladen, für sich selbst den Weg zu entdecken, auf dem er die Punkte auf sich persönlich beziehen kann.

Zweifellos ist dieses Buch als eine Herausforderung zu verstehen, als eine Erinnerung an die praktischen Konsequenzen, zu denen jeder Christ berufen ist, gemäss dem in der Taufe empfangenen Ruf, ein Heiliger und ein Apostel zu sein. Weiterhin sagt der hl. Josefmaria im Vorwort, „Ich möchte in dir Gedanken wecken, die dich treffen, damit dein Leben anders wird.“ Vor allem möchte das Büchlein jedoch den Leser anregen, direkt mit Gott zu sprechen, es soll als Sprungbrett zu einem persönlichen Gebet dienen, zu jenem Dialog, in dem Christus gesucht, gefunden und geliebt wird. Daher erinnert uns der hl. Josefmaria daran, dass der Autor und sein Leser nicht allein sind, denn „in diesen vertraulichen Gesprächen ist Gott zugegen.“ In dieser liebevollen väterlichen Gegenwart Gottes entsteht aus dem einfachen Lesen ganz natürlich Gebet.

Eins der Merkmale geistlicher Klassiker ist die Fähigkeit, über Zeit und Ort, in denen das Werk entstanden ist, hinauszugehen, und so können wir 67 Jahre nach seiner ersten Publikation feststellen, dass die stillen Worte von Feuer des hl. Josefmaria in der Tat rund um die Welt gegangen sind. Vom Spanien der 30er Jahre bis zum Manhattan des dritten Jahrtausends ist es ein langer Weg, doch das Buch hat seine lange Reise ohne Schwierigkeiten zurückgelegt. Auf seinem Weg hat dieses Büchlein zahllose Leben geändert; denn für viele, die den Weg lasen, war er, wie es der Autor beabsichtigte, der Beginn eines lebenslangen Gesprächs mit Gott. Für andere, wie auch für den jungen Architekten vom Jahr 1933, bedeutete der Weg den ersten Schritt auf dem Weg zu einer göttlichen Berufung mitten in der Welt. Für andere wiederum wurde das Buch zu einer Art Lebensgefährten, das man liest und immer wieder liest, das seinen festen Platz auf dem Nachttisch hat.

Der kraftvolle Eindruck, den dieses Büchlein hinterlässt, war nie auf bestimmte Länder, Sprachen, Kulturen oder Gesellschaftsgruppen beschränkt: der Professor in Berlin, die Hausfrau auf den Philippinen, der Geschäftsmann in Lagos, die Ballerina in Boston, der Priester in den Bergen von Peru, der Farmer in Dubuque ... – alle diese Menschen fühlten sich von den Worten eines jungen spanischen Priesters angesprochen, der zu Füßen der Pyrenäen aufgewachsen ist und der sich über einen wachsenden Abgrund von Jahren und unterschiedlichen Kulturen hinweg an sie wendet. Es ist erstaunlich, aber wenn er aufrichtig zu sich selbst und zu den Leuten aus seiner Umgebung in den 30er Jahren spricht, dann spricht der hl. Josemaria Escrivá gleichzeitig zu uns allen. Vielleicht hören wir im Weg die Stimme eines Freundes, den wir alle kennen, so wie der Autor es formuliert, die Stimme „eines Freundes, eines Bruders, eines Vaters“, die Stimme eines Heiligen, wie wir jetzt noch ergänzen können. Denn dieser unser Freund und Vater aus den 30er Jahren ist nun ein Heiliger im Himmel, die vertraulichen Worte, die er uns zuflüstert, wurden von einem Menschen gesprochen, den Papst Johannes Paul II. in der Heiligsprechungszeremonie als den „Heiligen des Alltags“ kanonisierte.

Der hl. Josefmaria verwendete gern Begriffe wie Straße, Pfad oder Reise, denn, wie er einmal formulierte und dabei Worte Jesu aus dem Johannesevangelium aufgriff, „um zu Gott zu gelangen, ist für uns Christus der Weg“ (Kreuzweg, 10. Station). In der Tat, am Ende gibt es nur den einen Weg: Jesus Christus – der Weg, die Wahrheit und das Leben. Doch kann dieser eine Weg unendlich viele Formen annehmen, so viele, wie es Männer und Frauen in der Geschichte gibt. „Cada caminante siga su camino“ (Jeder Wanderer folge seinem Weg). Diese Worte eines sozialistischen Werbeplakats, das am Ende des spanischen Bürgerkrieges vergessen und hängengeblieben war, wurde zu einem Motto des hl. Josefmaria. In diesen Worten erkannte er einen Hinweis auf Gottes geheimnisvollen, für jeden einzigartigen Ruf, den er ganz persönlich an jeden richtet, denn Gott ruft einen jeden von uns bei seinem Namen und lädt ihn ein, ihm zu folgen. Für jeden Menschen auf der Erde gibt es einen Weg, den Gott in seiner Vorsehung einzig für ihn bereitet hat. Im Vorwort zum Weg sagt der hl. Josefmaria, dass dieses Büchlein geschrieben wurde, damit der Leser „Wege des Gebetes und der Liebe“ aufnimmt, und der allererste Punkt im Weg lädt dazu ein, „alle Wege der Erde“ mit der Liebe Christi zu entzünden. Der hl. Josefmaria betonte, dass diese Wege des Gebetes, der Liebe und der Heiligkeit eben alle möglichen Straßen, Autobahnen, Alleen oder Bürgersteige unserer heutigen Gesellschaft sind. Wenn wir wirklich in die Fußstapfen Christi treten und ihm folgen wollen, dann werden alle Wege dieser Erde zu göttlichen Wegen.

Das Leben eines Christen in dieser Welt wird dann eine Reise auf der Suche nach der Liebe Christi. Das Buch des hl. Josefmaria ist eine offene Einladung, diese Reise anzutreten, und am Ende dieser Reise, geradezu wörtlich auch am Ende vom Weg, spricht der letzte Punkt von der Liebe, die wir antreffen werden, wenn wir wirklich Christus gesucht und gefunden haben als Erfüllung der mühsamen Reise, einer Liebe, die uns eigentlich schon während der ganzen Reise umgeben und gesucht hat: „Was das Geheimnis der Beharrlichkeit sei? Die Liebe. – Verliebe dich und du wirst Ihn nicht lassen.“ (P. 999) Die Liebe Christi ist sowohl das letzte Ziel, auf das wir ausgerichtet sind als auch der Weg, wie wir dorthin gelangen. Für heutige Leser wird es wohl keine bessere Einführung zum Weg geben als diese knappen Worte des hl. Josefmaria, die er als Widmung auf die Titelseite jenes geistliches Buches schrieb, das er 1933 dem jungen Architekten in Madrid schenkte: „Christus suchen, Christus finden, Christus lieben.“

Erschienen in Rom, 9.1.2006