Ein geistlicher Führer für unsere Zeit

Bei Josemaría Escrivá, der mir im geschriebenen Wort begegnet ist, habe ich denselben Mut wie bei den russischen Starzen gefunden, die gleiche Stärke und Grenzen aufhebende Liebe, welche die Geister unterscheidet und eine Antwort bereithält für jeden, der um Vertrauen nachsucht.

Unserem gequälten, aber nicht vernichteten Volk in Rußland ist eine Autorität geblieben: die „Starzen“*. In einem Land, in dem die Bibel kaum zu bekommen ist, sind sie das lebendige Evangelium, der lebende Beweis dafür, daß Gott existiert, uneinholbar für politischen Kalkül und weltliches Denken. Starzen sind durch ihr Leben ausgewiesene geistliche Führer. Sie begegnen uns als Väter. Und als Väter retten sie uns, lenken sie uns, stärken sie uns, stecken sie uns an mit ihrer Freude.

Bei Josemaría Escrivá, der mir im geschriebenen Wort begegnet ist, habe ich denselben Mut, die gleiche Stärke und Grenzen aufhebende Liebe gefunden, welche die Geister unterscheidet und eine Antwort bereithält für jeden, der um Vertrauen nachsucht. Und ich habe bei ihm auch jene unverwechselbare Autorität gefunden, die nicht zwingt und nicht unterdrückt, sondern verliebt macht und begeistert: Vaterschaft.

Unserer Zeit sind Autoritäten abhanden gekommen. Den Vater soll es nicht mehr geben. Die Menschen werden heim- und heimatlos. Deshalb sind uns Gestalten so wertvoll, die zu leuchten vermögen im gesamteuropäischen Dunkel und zur Autorität werden dort, wo selbst der Begriff der Autorität verlorenging.

„Dieser Mann ist heiter. Er kann kein Atheist sein.“ So sagt Dostojewski einmal. Und Josemaría Escrivá wiederholt wie einen Refrain seinen Aufruf zur Freude darüber, Kind Gottes zu sein. Auf erstaunliche Weise wirkt Heiligkeit paradox. Heiligkeit verlangt von uns das Höchste: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ Der Heilige fordert uns auf, daß wir alles verlassen, unser Kreuz aufnehmen und Christus nachfolgen. Heiligkeit heißt zuhören, auf diesen Anruf horchen und ihm bedingungslos gehorchen. Und gerade dieser Gehorsam macht uns frei. Solcher Gehorsam ist innerlich und hat nichts gemein mit der Sklaverei unter einer Ideologie und schon gar nichts mit der Unterwürfigkeit unter einem politischen System, welchem auch immer. Den inneren Gehorsam zeichnet aus, daß er jedesmal frei gewählt wird. Deshalb wird die Heiligkeit von der Freude begleitet.

Der Mensch des 20. Jahrhunderts hält sich auf seine Freiheit viel zugute. Zugleich und in Wirklichkeit ist er ein Opfer, er wird beherrscht. In seiner Not fragt der Mensch des 20. Jahrhunderts, ob Kirche für ihn nicht Sklaverei heißen werde. Nicht der Verweis auf Tradition und Moral gibt Antwort auf diese ängstliche Frage. Nur das Lebendige überzeugt. Ein Freund, dessen Leben 35 Jahre lang der Devise gefolgt war „lieber sterben als auf Knien leben“, erzählte mir, daß er zum erstenmal die grenzenlose Freiheit des Gehorsamseins erlebt habe, als er in einer Kirche niederkniete. Auch das Leben unserer geistlichen Lehrer, der lebendige Geist unserer modernen Heiligen ist eine Antwort. Sie anzuschauen macht die Seele weit, läßt uns zur Ruhe kommen.

Beeindruckt hat mich Escrivás Aufruf zur Alltags-Heiligkeit, die jede Minute herausfordert. Wir neigen dazu, auf große Dinge und große Taten zu warten. Dieser Hang zum Großen – bis hin zum Größenwahn – ist ein Kennzeichen der Menschenprojekte und der Ideologien. Aber das Christentum ist keine Utopie und auch kein bloßer Idealismus. Die Ikonen enthalten in ihrer rückwärtigen Perspektive die besondere Botschaft, den kleinen Dingen Beachtung zu schenken: das Scherflein der Witwe, die enge Pforte, das Senfkorn, das Nadelöhr. Je größer Gott ist, um so kleiner die Welt. Ihre Botschaft vom Unscheinbaren ist ein untrügliches Zeichen, daß die Ikone nicht ideologisch ist. Aus jedem kleinen Detail schaut Gott uns an. Auch ist Ideologie stets auf die Zukunft gerichtet. Gott aber ist gegenwärtig. Der Christ lebt hier und heute. Im Heute sind Unendlichkeit und Ewigkeit mitbegriffen. „Laß jeden Tag von neuem den Wunsch nach Entsagung und Selbstverleugnung in dir wirksam werden; vergiß dein Ich und lebe ‚in novitate sensus’, das heißt in einem erneuerten Geist, der das Elend des eigenen Lebens eintauscht gegen die verborgene, aber unendliche Größe Gottes.“

Die kleinen Dinge des Alltags bezeichnen jeweils den geeigneten und vor allem realen Ort und Zeitpunkt für Liebe und Treue. Die Poesie des Christentums wurzelt im Alltäglich-Konkreten. Der Christ ist nach den Worten Escrivás berufen, „aus der Prosa des Alltags epische Dichtung zu machen“. Ganz in diesem Sinne nannte Starez Paissij Welitschkowskij den Mönch einen „Märtyrer des Alltags“ und Escrivá den Weg des Weltchristen ein „Martyrium in der Stille“.

Vaterschaft ist geistlich in dem Maße, in dem sie selbst gehorsam ist und sich vom Himmel führen läßt. In der geistlichen Leitung verbinden sich Gleichheit und Autorität auf wunderbare Weise. Der geistliche Vater führt seinen geistlichen Sohn oder seine geistliche Tochter aufwärts, zeigt, wie man noch eine Stufe höher steigen kann. Wie Dionysios der Areopagite sagt, kehrt sich die höchste Stufe der geistlichen Hierarchie nicht gegen die niedrigste. Vor Gottes Angesicht sind alle Stufen gleich. So fordert geistliche Leitung bei aller Gleichheit dennoch Wagemut heraus und ruft den Christen auf, stets schöpferisch zu bleiben.

* Die „Starzen“ (im Singular „Starez“) sind Priester oder Mönche, die, im Rufe der Heiligkeit stehend, in der orthodoxen Kirche andere Gläubige geistlich leiten.

Vorwort in der Bildbiographie Fußspuren im Schnee, von Dennis M. Helming, 1991