Erneuerte Weltverantwortung aus dem Glauben

Karl Kardinal Lehmann hielt 2002 in Berlin einen Vortrag aus Anlass der kurz zuvor erfolgten Heiligsprechung des Gründers des Opus Dei. Darin befasst er sich mit der "Gestalt und Bedeutung des neuen Heiligen Josemaría Escrivá de Balaguer" - so der Untertitel seiner Ausführungen.

Wir stellen wesentliche Auszüge aus seinem Beitrag vor, die auch heute, nach fast 10 Jahren, aktuell und bleibend sind:

Am Schutzengelfest (2.10.) des Jahres 1928 beschäftigte sich Josemaría Escrivá während einiger Besinnungstage nochmals mit seinen geistlichen Notizen aus den letzten zehn Jahren. Wie er selbst berichtete, „sah" er dabei plötzlich in seiner vollen Gestalt das, was später „Opus Dei" heißen sollte. Er bleibt später mit Informationen über dieses Ereignis ziemlich zurückhaltend, aber es ist kein Zweifel, dass der 26jährige Priester hier die geistliche Geburt der von ihm gegründeten Gemeinschaft erfahren durfte.

Es ist auch zugleich der „Kern" dieser Botschaft erkennbar: Menschen aus allen Berufen und sozialen Situationen sollen inmitten ihres alltäglichen Tuns nach der Fülle des christlichen Lebens streben. Er sollte diesen Laien den göttlichen Ruf bewusster machen und Wege der Heiligung in der beruflichen Arbeit und in der Erfüllung der gewöhnlichen Aufgaben der Christen weisen. Hier liegt auch das Zentrum seiner Botschaft, die er im Jahr 1966 in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen formulierte: „Der Geist des Opus Dei greift die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun. Alle Menschen ohne Ausnahme ruft Christus auf, vollkommen zu sein wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Heiligwerden bedeutet für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, ihre eigene Arbeit zu heiligen, sich in dieser Arbeit selbst zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen, damit sie täglich auf dem Weg ihres Lebens Gott begegnen. – Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer stärkere Bewertung der Arbeit mit sich bringt, erleichtert offensichtlich den Menschen unserer Zeit das Verständnis für diesen Aspekt der christlichen Botschaft, den die Spiritualität des Opus Dei so sehr hervorhebt. Entscheidend aber ist das Wehen des Heiligen Geistes, der in seinem lebensspendenden Wirken unserer Zeit zum Zeugen einer tiefen Erneuerung im ganzen Christentum hat machen wollen. Liest man die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils, so erscheint als ein wichtiger Teil dieser Erneuerung gerade die neue Wertschätzung der gewöhnlichen Arbeit und der Würde der Berufung zu einem christlichen Leben und Arbeiten mitten in der Welt."(Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, Köln 1969, 4. Auflage 1992, 84f. Die in diesem Band gesammelten Interviews aus den Jahren 1966-1968 geben einen ausgezeichneten Einblick in Leben und Werk von Josemaría Escrivá.)

Offensichtlich konnte der noch erstaunlich junge Priester diese Vision anderen von Anfang an mit äußerster Klarheit vor Augen führen. Sie war auch nicht an eine konkrete historische Situation gebunden, obgleich es immer um die Umsetzung der empfangenen Botschaft vor Ort und in der konkreten Zeit ging. Er war überzeugt, dass es dafür eigentlich nur zweier Mittel bedarf, nämlich das Kreuz und das Evangelium.

Mit dieser biographischen Skizze sind zugleich auch die Umrisse der spirituellen Gestalt von Josemaría Escrivá sichtbar geworden. Nach langer Zeit des Wartens ist, so haben wir gesehen, bei der entscheidenden Vision vom 2. Oktober 1928, die Grundintuition mit großer Deutlichkeit erkennbar geworden. Ein Kern liegt in der Aussage, „dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun".

Vielleicht ist das Wort von der „neuen Weltverantwortung", das wir auch im Titel benutzen, noch zu künstlich und anspruchsvoll für das Elementare, das in dieser Spiritualität zum Ausdruck kommt. Escrivá geht davon aus, dass der Christ ein unbefangeneres, freilich keineswegs naives Verhältnis zur Welt und zu seiner Arbeit gewinnen muss.

Hier setzt er sich am stärksten von den klassischen Orden ab. Er bestreitet entschieden und grundlegend, dass nur derjenige ein ganz auf Gott gerichtetes Leben führen kann, der auf irgendeine Weise Abstand von der Welt hält, so z.B. durch Klostermauern, Gelübde, Ordenskleid und auch Ordensregeln. Er sah es als falsch an, dass das eigentliche christliche Leben faktisch oft gleichgesetzt worden ist mit der Abgeschiedenheit von der Welt, wie dies ein Ideal vieler Ordensgemeinschaften war. Auch die Weltpriester haben nach Escrivá ihr persönliches religiöses Leben weitgehend in dieser Richtung, wenn auch in abgemilderten Formen, orientiert. Weil der Laien-Christ oft noch stärker Versuchungen und Zerstreuungen ausgesetzt ist, hat man ihm ein Leben nach dem Evangelium gar nicht zugetraut und ihn nicht selten als einen „Christen zweiter Klasse" gesehen, der die bedingungslose Nachfolge Jesu Christi nicht beschreiten könne. Die Laien selbst haben sich nach Escrivá dieser negativen Vorstellung zu lange gebeugt.

Diese Tradition prägte – gewiss mit Ausnahmen – nach Escrivá die ganze katholische Kirche. Es scheint, dass sie im Spanien der 20er und 30er Jahre besonders krasse Formen angenommen hatte. Es liegt also gewiss etwas Revolutionäres darin, wenn Escrivá sich mit solchen Argumenten nicht mehr mit einer ausgedünnten Ordensspiritualität für Laien abfinden möchte. Er traut der Gnade Gottes im Wirken vieler Laienchristen mehr zu. So hat Escrivá ganz grundlegend die Berufung jedes Christen in den Vordergrund gestellt.

Wiederum ist hier das Time-Interview vom 15. April 1967 aufschlussreich: „Am ehesten ist das Opus Dei zu verstehen, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jede Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den anderen Leuten. Die Mitglieder des Opus Dei sind normale Menschen, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen." (Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 50. Vgl. auch ebd., 49ff., 77ff., 87ff.) Kann man nicht verstehen, dass dieses Programm, auch wenn es vielleicht manchmal missverständlich umgesetzt wurde, viele Menschen anzog und anzieht?

Die Unbefangenheit dieser Worte kann leicht täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine naive Zuwendung zur Welt. Der Gründer war sich vollkommen klar, dass derjenige, der mehr in der Welt lebt, um so tiefer die Wurzeln seiner Existenz in Gott erfahren muss. Nicht zur Abkehr von der Welt ist der Laien-Christ gerufen, sondern zu ihrer verantwortlichen Gestaltung im Sinne des Schöpfers. Immer wieder kommt die Formulierung vor: sich durch seinen Beruf heiligen, seinen Beruf heiligen und die anderen durch den eigenen Beruf heiligen. Im Jahr 1967 formuliert Escrivá diese grundlegende Überzeugung in einer Predigt mit folgenden Worten: „Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes... Gott ruft euch auf, ihn gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns... Es tut unserer Zeit Not, der Materieund den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen." (Zitiert nach D. M. Helming, Fußspuren im Schnee, 22)

Deshalb hat Escrivá immer auch wieder Leute gesucht und mit ihnen gerungen, die ein intensives weltliches Leben führten und große Aufgaben erfüllen mussten. Er hielt die Einsatzbereitschaft und die Disziplin solcher Menschen für günstige Voraussetzungen, um sich in ähnlichem Maß auch für geistliche Ziele einzusetzen, die die alltäglichen Aufgaben nicht etwa verdrängen, sondern – wie er gerne sagte – „veredeln". Er war überzeugt, dass Menschen, die den beruflichen Anforderungen eher ausweichen und auch wenig

Änderungsbereitschaft erkennen lassen, weniger geeignet sind für das Opus Dei. Eine solche Aussage kann im Blick auf die Armen, Schwachen und Bedrängten gewiss zwiespältig werden. Aber die entscheidende Stoßrichtung ist klar. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass Escrivá die Mächtigen und Einflussreichen aufsuchen und gewinnen wollte, sondern Menschen mit einer hohen Bereitschaft zum Einsatz und auch zur Veränderung. Das ganze menschliche Leben muss in der Kontemplation wurzeln. Immer wieder sagte Escrivá, die Waffe des Opus Dei sei nicht die Arbeit, sondern das Gebet. Damit hat er manchmal Menschen in der Welt geradezu verblüfft.

Prof. Victor García Hoz, Psychologe und später Mitglied des Opus Dei, erzählt uns: „Im Jahre 1941 sagte Don Josemaría einmal zu mir: 'Gott ruft dich auf dem Weg der Kontemplation.' Ich war total verblüfft. Ich war schließlich ein verheirateter Mann mit damals drei Kindern, zu denen noch weitere dazukommen konnten und tatsächlich auch kamen. Außerdem hatte ich hart zu arbeiten, um meine Familie zu ernähren. Dass jemand einem Mann wie mir Kontemplation, geistliche Beschaulichkeit, als ein erreichbares Ziel hinstellte, das war in der damaligen Zeit einfach ungeheuerlich" (Ebd., 21.). Die Welt selbst wird so für den Laien im strengen Sinn zum Ort der Begegnung mit Gott.

Ich verzichte darauf, diese Aspekte zu vertiefen und weiter zu entfalten. Wenn man jedoch Escrivá verstehen will, muss man immer wieder zu diesem grundlegenden Gedanken zurückkehren. Nur von daher ist es auch verständlich, dass er in relativ kurzer Zeit so viele Menschen ansprach, die mitten im säkularen Leben standen und dennoch Christen sein wollten. Viele haben einen solchen Weg der Heiligung mitten in der Welt gesucht, ihn aber mit den traditionellen Wegen nicht finden können.

Wenn man in die Kleinigkeiten des Alltags Liebe hineinlegt, dann wird man auch die Spuren Gottes darin finden. Alles andere ist für Escrivá „Blechmystik", die letztlich aus eitlen Träumereien und falschen Idealismen besteht. Escrivá scheut sich nicht, unmittelbar die ganz materielle Wirklichkeit als Feld christlicher Bewährung zu sehen und spricht wiederholt von einer „Materialisierung" des christlichen Lebens oder auch von einem „christlichen Materialismus". Wir haben vielleicht heute Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache. Aber jeder, der verstehen will, kann diese Sprache deuten und auslegen – was wir ja sonst auch machen.

Ich denke aber auch an die Einschätzung der irdischen Dinge und ihre Autonomie bei Thomas von Aquin, der den Eigenwert der Schöpfungswirklichkeit und das Gutsein der aus den Händen Gottes hervorgegangenen Welt unmissverständlich betont. Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man an Männer wie Thomas Morus denkt, die ihre Überzeugung ausdem Gewissen mit ihrem Leben besiegelten. Es ist jedoch das Verdienst von Escrivá, dass er mit Entschiedenheit die Ansätze der Tradition aufgreift und daraus wirklich nicht nur eine „Spiritualität für Laien", sondern eine „laikale Spiritualität" schafft. In diesem Sinne ist Escrivá ohne jede Frage ein Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Viele Aussagen des Konzils über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche und zum Glaubenszeugnis in Kirche und Welt haben hier ihre Wurzeln.

In dieser Grundintuition ist alles andere vorgezeichnet. Deshalb ist es auch nicht notwendig, an dieser Stelle die Konsequenzen sichtbar zu machen. Dies gilt z.B. für die Suche nach einer

adäquaten rechtlichen Form, in der die Grundgedanken des Opus Dei angemessen gelebt werden können. „Für einen Lebensweg, der die Heiligung des Laien-Christen im Alltag und durch ihn zum Ziel hatte, für die spezifische Berufung zu etwas Unspezifischem also, gab es in der Kirche noch kein juridisches Modell. Erst das realiter von Menschen in aller Welt gelebte Opus Dei schaffte nach und nach eine innerkirchliche Gegebenheit, welcher schließlich,

gemäß den organischen Lebensprinzipien der Kirche die adäquate Rechtsform zuwachsen musste." (P. Berglar, Opus Dei, 11)

Diese Einsicht bestimmt auch manche andere Eigenheiten des Opus Dei. So gibt es im Bereich der irdischen, säkularen Probleme eine große innere Freiheit, wie sie der Einzelne im Alltag seines Berufes auch braucht, während die Ausrichtung auf ein transzendentes, übernatürliches Ziel mit großer Gemeinsamkeit verfolgt wird.

Ich kehre kurz an den Anfang zurück. Es kam mir darauf an, die spirituelle Grundgestalt des neuen Heiligen darzulegen. Wenn die Kirche einen neuen Heiligen geschenkt bekommt, dann muss sie sich auch fragen, was der Geist Gottes durch einen solchen Zeugen hindurch der Kirche einer Zeit sagen möchte. Wir haben dies vielleicht bisher zu wenig versucht. Dies gilt nicht nur für Josemaría Escrivá, sondern auch für Mutter Teresa, Edith Stein, Adolf Kolping, Maximilian Kolbe, Titus Brandsma und manche andere.

Es wäre ein unverzeihliches Versäumnis, wenn wir uns nicht wenigstens mühen würden, das spezifische Zeugnis in dieser Bedeutung für uns heute zu entdecken. Die Kirche kann es sich heute nicht leisten, Charismen, die in ihr entstanden und aufgeblüht sind, zu verachten. Sie kann sich auch nicht leisten, Bewegungen dieser Art gegeneinander auszuspielen. Ich bin fest überzeugt, dass wir angesichts der großen Herausforderung deschristlichen Glaubens heute alle Kräfte bündeln müssen, um bei aller Ausformung im einzelnen aus der Mitte des Glaubens heraus ein gemeinsames Zeugnis vor der Welt ablegen zu können. Dies ist gerade auch wichtig in der Stoßrichtung dessen, was Josemaría Escrivá im Blick auf eine „laikale Spiritualität" wollte. Die Kirche muss die Laien befähigen, inmitten ihrer säkularen Tätigkeit authentische Zeugen des Evangeliums zu sein. Es ist gar nicht möglich, dass der Arm der verfassten Kirche überall hinreicht. Es braucht die Selbständigkeit aller Christen je an ihrem Ort, um dem Evangelium in allen Feldern unseres Lebens einen Weg zu bahnen und Raum zur Entfaltung zu geben. Davon wird in hohem Maß die Zukunft der Kirche abhängen.