Josemaría Escrivá - Eine reiche Persönlichkeit

Bischof Javier Echevarría, der Prälat des Opus Dei, hat mehr als 20 Jahre lang in Rom in unmittelbarer Nähe des heiligen Josemaría Escrivá gelebt. Als einer der beiden "Custodes" half er ihm bei seiner täglichen Arbeit und hatte die Aufgabe, ihn mit aller Freiheit und Offenheit auf das aufmerksam machen, was ihm angebracht erschien.

Bischof Javier Echevarría, der Prälat des Opus Dei, hat mehr als 20 Jahre lang in Rom in unmittelbarer Nähe des heiligen Josemaría Escrivá gelebt. Der Kontakt zum Gründer des Opus Dei wurde noch direkter, als er 1956 zu seinem Custos gewählt wurde, d.h. zu einem der beiden Priester, die - gemäß den Statuten des Opus Dei - dem Prälaten in seinen geistlichen und materiellen Belangen zur Seite stehen, ihm bei seiner täglichen Arbeit helfen und ihn mit aller Freiheit und Offenheit auf das aufmerksam machen, was ihnen angebracht erscheint.

Fast zwanzig Jahre lang bin ich Custos gewesen, und daher kann ich glaubwürdig versichern, daß der heilige Josemaría unsere Vorschläge und Hinweise immer dankbar annahm. Er wurde nicht müde in dem Bemühen, Gott näher zu kommen, und darum kämpfte er selbst gegen seine kleinsten Fehler und forderte viel von sich. Er war beseelt vom Eifer eines in Gott verliebten Menschen, der seiner Liebe in allem zu gefallen sucht; und das jeden Tag, in schwierigen und leichten Aufgaben, bei wichtigen Unternehmungen und solchen, die bedeutungslos scheinen.

Er hatte die Gewohnheit, nichts auf später zu verschieben, vor allem, wenn es sich um seine eigene Besserung handelte. Sobald er selbst eine eigene Unzulänglichkeit bemerkte oder wir ihn auf etwas hinwiesen, das es zu verbessern galt, gab er sich sogleich in diesem Punkt Mühe, ohne den nächsten Tag abzuwarten. Nichts galt ihm als Entschuldigung, selbst die Müdigkeit nicht; er war im Gegenteil stets darauf bedacht, sich zu bessern und in der Gottesliebe zu wachsen. Er gab daher auch die von lebensnaher und göttlicher Pädagogik inspirierte Empfehlung: Ich pflege folgenden Rat zu geben: das Gute möglichst bald tun! In unserer Hingabe an Gott gibt es keine Kette, die uns fesselt, es gibt nur die Freiheit, uns immer mehr hinzugeben. Obwohl es ihm ein Anliegen war, den Bitten Gottes immer so vollkommen wie möglich, zu entsprechen, unterließ er es nie, ihn um Verzeihung zu bitten für seine Unterlassungen, für jegliche Unachtsamkeit gegenüber den göttlichen Forderungen.

Bis zum letzten Tag seines Lebens bat er uns, seine beiden Custodes, ihm zu helfen, ein stets frommer, froher und optimistischer Mensch zu sein. Er zählte auf unsere Unterstützung, um immer vorbildlich seine Pflicht zu erfüllen, die Krankheiten besser zu tragen, ausdauernd zu arbeiten und sich wirklich ganz und gar hinzugeben. Ich glaube, daß es objektiv ist, wenn ich behaupte, daß er Gott nie bewußt “nein” gesagt und auch nie halbherzig auf seine Bitten reagiert hat.

Was er den anderen riet, lebte er persönlich als erster: Wir müssen immer bereit sein und dabei bedenken, daß jeder Augenblick unserer Existenz der Moment des letzten Kampfes sein kann. Oder mit anderen Worten, es ist wichtig, daß Gott uns für diesen letzten Kampf, der in jedem Moment anstehen kann, immer vorbereitet findet.

Er selbst schonte sich nicht in diesem inneren Kampf. Im August 1971 bestand er auf einem Gedanken, der mir charakteristisch zu sein scheint für sein feines Gewissen und seine ständige Bereitschaft, sich zu überwinden, um dem Willen Gottes zu entsprechen: Heilig sein bedeutet, mit Ausdauer gegen die eigenen Fehler zu kämpfen. Heilig sein bedeutet, die Pflicht jeden Augenblicks zu erfüllen, ohne Entschuldigungen zu suchen. Heilig sein bedeutet, den anderen zu dienen, ohne irgendwelche Kompensationen dafür zu erwarten. Heilig sein bedeutet, die Gegenwart Gottes, d.h. den beständigen Umgang mit ihm, zu suchen, im Gebet und in der Arbeit, die zu einem ununterbrochenen Zwiegespräch mit dem Herrn verschmelzen. Heilig zu sein bedeutet, sich mit solchem Einsatz um die Menschen zu kümmern, daß man sich selbst vergißt. Heilig sein bedeutet, Gott, in jedem Moment unserer Begegnung mit ihm “ja” zu sagen.

Sein Bemühen um Vollkommenheit

Schon als junger Mensch besaß er viele menschliche Tugenden. Was seine Fehlhaltungen betraf, so mußte er darauf achten, nicht zu schnell und spontan zu reagieren. Außerdem neigte er zu heftiger Empörung. Immer schon empfand er einen starken Unwillen, wenn seiner Ansicht nach etwas schlecht gemacht wurde, oder zumindest nicht so gut wie möglich.

Wie dem auch sein, diese Charakterzüge, die sich zu beträchtlichen Fehlern hätten auswachsen können, dienten ihm als Ansatzpunkte bei der Entfaltung seiner reichen Persönlichkeit. Sie wurden zur Grundlage für die Stärke, die er später brauchte, um das in Angriff zu nehmen, was der Herr für ihn vorgesehen hatte: die Ungeduld wurde zu heiliger Kühnheit und sein impulsives Temperament wußte er so zu steuern, daß er am Ende ein sehr verständnisvoller Mensch war. Uns hat er oft anvertraut, was ihn tief im Herzen bewegte: Ich bitte jeden von euch um Verzeihung für die Unannehmlichkeiten, die ich eventuell verursacht habe. Ich versichere euch, daß ich niemanden mit meiner Art zu sein oder zu handeln bewußt abtöten oder ärgern will. Es ist jedenfalls nie meine Absicht; wenn es doch einmal so gewesen sein sollte, bitte ich um Entschuldigung.

Er kämpfte darum, seine natürlichen Tendenzen in positive Eigenschaften umzuwandeln: er besaß einen energischen und aufrechten Charakter, er war fähig zu schnellen Entscheidungen und scharfsinnigen Überlegungen; er bemerkte, was um ihn herum geschah, und er beherrschte die Kunst, mit Schwierigkeiten fertig zu werden. Aber er ließ sich nicht von seinem “Ego” beherrschen, sondern versuchte, selbst die primo primi, die sontanen Erstreaktionen, in den Griff zu bekommen und im Dienst an Gott und den Seelen mit lauterer Absicht zu reden und zu handeln.

Wenn ich sein Leben überblicke, so wage ich zu behaupten, daß sich dort der Sieg von Wille und Verstand – beide ganz in Gott verwurzelt – über seine charakterlichen Anlagen zeigt. Diesen Triumph verdankte er einer nie nachlassenden Wachsamkeit sich selbst gegenüber, obwohl er auch uns stets aufs neue um Hilfe bat; ich konnte miterleben, wie er beharrlich jene feinen Fäden durchtrennte, die leicht zu Fesseln werden können, welche uns von Gott trennen. So erlangte er mit der Zeit eine heitere Gelassenheit und lernte, sein außerordentlich vitales Temperament durch Klugheit und Stärke zu zügeln.

Auszug aus Erinnerungen an den seligen Josemaría, Adamas Verlag, Köln 2002, S. 17ff