Josemaría Escrivá und Thomas Morus – nahe Geistesverwandte

Die Gewissheit Escrivás, daß der Laie mit einer eigenen Mission in der Kirche betraut ist, macht verständlich, weshalb er Thomas Morus stets als eine ideale, ihm sehr nahe stehende Persönlichkeit betrachtet hat. Thomas Morus ist sozusagen der erste, der eine laikale Berufung gehabt hat, und zwar unter mancherlei Drangsalen.

Der Autor vergleicht Josemaría Escrivá und Thomas Morus und entdeckt in den beiden Männern nahe Geistesverwandte. (Leicht gekürzt)

Nur einmal hatte ich die Möglichkeit, dem heiligen Josemaría Escrivá zu begegnen. Hingegen war ich sehr gut befreundet mit seinem Nachfolger, Bischof Alvaro del Portillo, der oft – manchmal ernsthaft, manchmal im Scherz – davon redete, wie vollkommen ich den Geist der Lehre des Heiligen und daher des von ihm gegründeten Werkes verstanden hätte.

Seit jeher bewundere ich an den apostolischen Initiativen des Opus Dei, die ich gründlich kennenlernen konnte, die Arbeit, die dort geleistet wird.Besonders fasziniert mich eine Art Ausbildungsmodell, das ich ohne weiteres mit jenem vergleiche, das von einem so großen Intellektuellen und Heiligen wie Kardinal John Henry Newman in seiner Schrift “The idea of a university“ verfochten wurde. Darin betont Newman unter anderem, daß das spezifische Ziel der Universität kein konfessionelles sein kann, sondern darin bestehen muß, Kultur im weitesten Sinn des Wortes zu vermitteln. Eine so natürliche Angelegenheit wie die Tradierung von Kultur, das steht für ihn fest, bildet den fruchtbarsten Boden für jegliche religiöse und moralische Veredelung der Menschen. Das Opus Dei ist mit dieser Art von Bildungsarbeit beispielgebend, seine Initiativen erstrecken sich dann aber auch auf viele andere Bereiche. Dabei tut es letztlich nichts anderes, als die dem katholischen Laien gemäße Rolle zu unterstreichen.

Heute scheint allen klar und verständlich zu sein, daß innerhalb der Kirche der Laie kein Christ zweiter Klasse ist, und daß sein Stand nicht als bloße Abwesenheit einer Ordensberufung zu verstehen ist, sondern als spezifische Berufung in der Kirche. Was ist ein Laie? Der Laie wurde definiert als derjenige, der nicht geweiht, also kein Subdiakon, kein Diakon und kein Priester, kein Bischof, ja nicht einmal ein Ordensmann ist. Lange Zeit, genau genommen bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, war der Laie ein Mitglied der Kirche per via negationis: Der Laie war derjenige, der … in der Kirche nichts anderes war!

Um diese tiefsitzende Überzeugung aufzuzeigen, genügt es, zu Newman zurückzukehren. Dieser hatte in der Zeitschrift The Rambler einen Artikel mit dem Titel verfaßt: „Ist es rechtens oder angebracht, in Fragen des Glaubens die Laien zu konsultieren?“. Nun, ein Monsignore der Kurie fühlte sich durch die Aussagen in diesem Essay veranlaßt, den Verfasser bei den kirchlichen Behörden zu verklagen. Er, der Monsignore, befand jedenfalls, die Funktion der Laien in der Kirche beschränke sich darauf, Karten zu spielen, Kinder zu zeugen und auf die Jagd zu gehen.

Derjenige, der vor dem Konzil die autonome Rolle des Laien und das Laie-Sein als spezifische Berufung in der Kirche erkannte, war Josemaría Escrivá. Das Opus Dei ist in der Tat eine dem Wesen nach laikale Institution, so sehr, daß der Gründer die ersten Mitglieder unter zivilberuflich tätigen Laien suchte und fand, und nicht unter Priestern! Vor die Aufgabe gestellt, das Werk rechtlich einzuordnen, mußte er sich anfänglich mit einer juristischen Formel zufrieden geben, die die Berufung der Mitglieder des Opus Dei nicht angemessen auszudrücken vermochte. Als der heilige Josemaría Escrivá um das Jahr 1946 zum damaligen Substituten des Päpstlichen Staatssekretariates, dem späteren Kardinal Tardini kam, um ihm sein Konzept vorzustellen, gab ihm dieser zu verstehen, daß diese Ideen für die damalige Zeit und die Situation der Kirche noch völlig verfrüht waren: „In fünfzig Jahren, wer weiß …“, beschied er ihn. Doch Escrivá machte sich an die Arbeit, um die definitive juristische Lösung zu finden – eben die heutige Rechtsform der Personalprälatur, wie sie dann in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils bereits vorgesehen wurde.

Die Intuition war folgende: Der Laie besitzt eine eigene, spezifische Berufung. Oder, um es mit meinen Worten zu sagen, der Laie ist der Priester des Zeitlichen. Die spezifische Berufung des Laien ist jene des Priestertums der weltlichen Angelegenheiten – in der Forschung, in der Technik, und dann auch, füge ich hinzu, in der Politik. Denn entweder wird die Politik als ein Entwurf der Gerechtigkeit und der Liebe, des Dienstes an den anderen, aufgefaßt, oder die Politik kann für den Christen schlechterdings nicht als Berufung gelten.

Diese Gewißheit Escrivás, daß der Laie mit einer eigenen Mission in der Kirche betraut ist, macht verständlich, weshalb er Thomas Morus stets als eine ideale, ihm sehr nahe stehende Persönlichkeit betrachtet hat. Thomas Morus ist sozusagen der erste, der eine laikale Berufung gehabt hat, und zwar unter mancherlei Drangsalen. Er, der Sohn eines großen Rechtsanwalts, wurde zuerst als Page an den Hof des Kardinals und Erzbischofs von Canterbury geschickt, danach studierte er an der Saint Mary Hall in Oxford. Dann wurde er Rechtsanwalt und beschloß zu heiraten. Er sah in der Ehe keinen niedrigeren Stand im Vergleich zum Ordensleben oder zum Priestertum, sondern eine spezifische Berufung. Er war vielfältig begabt und trug große Verantwortung als Rechtsgelehrter, Sheriff von London, Diplomat, Mitglied und dann Speaker des Unterhauses, und schließlich als Lordkanzler von England, als welcher er das höchste Amt im Königreich innehatte. Er war ein ausgezeichneter Ehemann und ein glücklicher Vater. Vor allem war er ein vorbildlicher Freund; man hat ihn charakterisiert als einen, der „zur Freundschaft geboren“ war, und als „Mann für alle Jahreszeiten“, womit man hierzulande zwar einen Wendehals, in England aber einen Menschen meint, der in allen Umständen seiner Zeit als Christ zu leben versteht.

Er verteidigte sogar die Vorrechte der Krone gegenüber dem Papst. Doch als der Augenblick kam, dem eigenen Gewissen treu zu bleiben, blieb ihm, dem das eigene Gewissen heilig war, keine andere Wahl, als dem König den Gehorsam zu verweigern, da er überzeugt war, daß der König den Untertanen keine religiöse Wahrheit aufzwingen durfte! Thomas Morus war ein Laie und vielleicht der der erste Heilige mit einer ausschließlich laikalen Berufung.

Ich würde sogar sagen, daß er möglicherweise dem Opus Dei angehört hätte, wenn er heute lebte, … oder mindestens, so wie ich, mit ihm befreundet gewesen wäre!

Übrigens – da ich bemerkt hatte, daß die Regierenden und die Politiker als einzige Berufsgruppe keinen eigenen Patron hatten – Gott weiß, wie sehr sie einen Patron brauchen! – begann ich 1984 mit der Unterstützung des Prälaten des Opus Dei, Unterschriften für eine entsprechende Ernennung von Thomas Morus zu sammeln. Ich bekam viele tausend Unterschriften von Leuten der Rechten, des Zentrums und der Linken, innerhalb und außerhalb Italiens. Und im Heiligen Jahr wurde dieses Ziel anläßlich der Jubiläumsfeierlichkeiten für die Politiker erreicht.

Thomas Morus war eine außerordentliche Gestalt, und man begreift sehr gut, weshalb der heilige Josemaría Escrivá ihn sehr schätzte. Er mußte in ihm den Vorläufer der Laienberufung, wie er sie verstand, erblicken, denn Thomas Morus lebte sein Laien-Sein in vollem Umfang: als Anwalt, als Diplomat, als Politiker, als Ehemann und Vater. Und das bis zu den letzten Konsequenzen, auch ohne zu wissen, daß er einmal Märtyrer werden sollte. Man versteht, wie das Denken von Escrivá und das Leben von Thomas Morus einander entsprechen und wie es zu jener nicht zufälligen Verbindung zwischen der Spiritualität des Gründers des Opus Dei und der „gelebten“ Spiritualität von Thomas Morus gekommen ist.

Erschienen im Liberal (Italien) 12/2002