Profil eines Charakters

Es ist nun an der Zeit innezuhalten und ein Charakterprofil Josemaría Escrivás zu versuchen, was alles andere als leicht ist, denn es genügt nicht, sich eine Handvoll Begebenheiten aus seinem Leben ins Gedächtnis zu rufen, man muß seine erleuchtete Intelligenz, seinen bereiten Willen und seine geistige Weite in den Blick nehmen.

Nachdem er den Lebensweg des Gründers des Opus Dei von seiner Geburt bis in die 50er Jahre nachgezeichnet hat, der seit 1928 mit der Aufgabe zusammen fiel, das Opus Dei in der Kirche zu verwurzeln und in der ganzen Welt auszubreiten, widmet Andrés Vázquez de Prada im dritten Band seiner Biographie ein ganzes Kapitel der Ausleuchtung der komplexen Persönlichkeit des Menschen und Gründers Escrivá.

1. Geistliche Vaterschaft

Es ist nun an der Zeit innezuhalten und ein Charakterprofil Josemaría Escrivás zu versuchen, was alles andere als leicht ist. Denn historische Gestalten in ihrer Komplexität zu erfassen und angemessen zu gewichten, ist kein geringes Unterfangen. Die ersten Lebensjahre, Kindheit und Jugend sind dabei in der Regel schnell erfaßt, denn die Quellen fließen nur spärlich und die historischen Perspektiven bleiben noch vage. Im Laufe der Jahre dann, wenn sich das Geschehen verdichtet, die Leidenschaften erwachen und die Ereignisse zunehmen, wird es schwieriger, die sich im Handeln eines Menschen spiegelnden Fähigkeiten und Gaben auf einen Blick zu erfassen, erst recht, wenn – wie in unserem Fall – das innere Leben überbordend ist. Es ist die Sendung, die sie von oben erhalten, die große geschichtsträchtige Persönlichkeiten kennzeichnet und prägt. Um sie zu erfassen, genügt es nicht, sich eine Handvoll Begebenheiten aus ihrem Leben ins Gedächtnis zu rufen, man muß ihre erleuchtete Intelligenz, ihren bereiten Willen und ihre geistige Weite in den Blick nehmen. Und es gilt, die Richtung ihrer Neigungen zu erforschen, die Wege, denen sie folgen oder die ihnen im Blut liegen, nachzuzeichnen.

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Fast fünfzig Jahre stand Escrivá an der Spitze des Unternehmens Opus Dei. Am 2. Oktober 1928 hatte er für seine Sendung als Gründer die Verantwortung übernommen. Da es dabei um göttliche Dinge ging, schrieb er in den Anfängen: »Es liegt nicht in unserer Hand, in irgend einem Punkt nachzugeben, irgend etwas zu beschneiden oder zu verändern, was sich auf den Geist und die Organisation des Werkes bezieht.« Noch dramatischer hatte er es in seinen Aufzeichnungen formuliert: »Jesus! Dein Werk möge sich nie von seinem Ziel entfernen. Verwünsche ab jetzt, Herr, denjenigen, der versuchen wollte – zwecklos natürlich –, den Kurs, den du vorgibst, zu ändern.« Angesichts der geschichtlichen Tragweite einer so universalen Sendung, wie es die Einpflanzung des Opus Dei auf Erden war, fühlte sich der Gründer absolut unwürdig und überwältigt. Er erachtete sich als »ungeeignetes und taubes Werkzeug«. Er suchte Kraft und Zuflucht im Gebet und im Opfer und fragte sich, warum gerade er und nicht ein anderer: »O Herr! Warum hast du mich gesucht – der ich die Verneinung bin –, wo es doch so viele heilige, weise, wohlhabende und angesehene Menschen gibt?«

Angesichts der hohen Sendung, die Gott ihm anvertraut hatte, hielt er sich keineswegs für unverzichtbar. Er fühlte, daß der Herr ihn leben lassen würde, bis sich das Werk gefestigt hatte, und dennoch pflegte er in den unsicheren Jahren vor und nach dem spanischen Bürgerkrieg die ersten Mitglieder des Opus Dei zu fragen: Sollte ich sterben, »würdest du weiter arbeiten, um das Werk voranzubringen, auch auf Kosten deines Besitzes und deiner Ehre, deiner beruflichen Arbeit, mit einem Wort, indem du dein ganzes Leben in den Dienst Gottes in seinem Werk stellen würdest?«

Der Gründer war sich der geschichtlichen Tragweite seines Tuns und Handelns bewußt; das äußerte sich sowohl in seinem restlosen Einsatz, den Weg zu bahnen, den seine Kinder durch die Jahrhunderte gehen würden, wie auch in der äußersten Sorgfalt, mit der er Papiere, Anweisungen und Briefe, Quittungen, Rechnungen und Reisetickets aufbewahrte.

Vom ersten Moment an begriff er in der Gegenwart Gottes die Größe seines Rufes, doch angesichts der nach außen hin nicht weiter wichtig erscheinenden Ereignisse, deren Bedeutung für die Zukunft nicht erkennbar war, wagte er es nicht, sie in ihrer Bedeutsamkeit denen, die ihm folgten, mitzuteilen. Es mußte Zeit vergehen, bis er eines Tages sagte: »Meine Kinder, ich muß euch einen Gedanken mitteilen, den ich, als ich jung war, weder zu denken noch zu äußern wagte; und mir scheint, daß ich ihn euch jetzt sagen muß. Im Laufe meines Lebens habe ich mehrere Päpste kennengelernt, viele Kardinäle, eine Menge Bischöfe. Aber Gründer des Opus Dei gibt es nur einen – auch wenn er ein so armer Sünder ist wie ich. Ich bin ganz davon überzeugt, daß der Herr sich das Schlechteste ausgesucht hat, was er finden konnte, damit so klar wird, daß das Werk von ihm ist. Doch Gott wird von euch Rechenschaft fordern, weil ihr in meiner Nähe gewesen seid, denn er hat mir den Geist des Opus Dei anvertraut, und ich habe ihn an euch weitergegeben.«

Es war wohl 1955, als zwei Leiterinnen vom Zentralassessorat des Opus Dei in Rom Monsignore Pedro Altabella, Kanoniker an St. Peter, besuchten. Er war mit dem Vater seit 1934 befreundet. Im Laufe des Gesprächs äußerte Altabella, sie seien sich der Bedeutung des Gründers jetzt noch nicht wirklich bewußt, doch werde der Moment kommen, da man den Namen von Josemaría Escrivá auch noch im letzten Winkel der Erde hören werde. Als die beiden das dem Vater erzählten, meinte dieser in aller Einfachheit: »Meine Töchter, es stimmt. Deswegen bete ich jeden Tag, hingestreckt auf den Boden, den Psalm Miserere.«

Er hatte einen großen Widerwillen gegen jede Art von Kult um seine Person, denn das Opus Dei, erklärte er, »ist nicht mein Werk, es ist von Gott und nur von Gott« . Für sich selbst beanspruchte er nur eine sehr bescheidene Rolle: »Im Werk ist alles von Gott«, wiederholte er, »nichts ist von mir, doch wohlwissend, daß Gott, um zu den Menschen zu sprechen, sich sogar der Eselin des Bileam bediente.«

In der Gewißheit des übernatürlichen Ursprungs des Opus Dei blickte er zuversichtlich in die Zukunft: Wenn er einmal vor Gott über sein Tun Rechenschaft abzulegen habe, würden andere die Arbeit fortführen. Gottlob hinterließ er sein Werk fest gefügt und bis ins Letzte »wie in Stein gemeißelt«, so daß es den zerstörerischen Kräften der Zeit sowie der Schwerfälligkeit und dem schwachen Willen der Menschen im Falle eines Falles standhalten würde. Der Gründer hatte in der Tat alles, was zum Wesen des Werkes gehörte, im Codex, also im Eigenrecht des Werkes festgehalten. Dort war der Geist genau beschrieben. Der Codex, sagte der Gründer seinen Kindern, ist »endgültig, heilig und unverletzlich« . Und im Glauben an den göttlichen Beistand gab er seinen Söhnen zu bedenken, daß »in vielen Institutionen gewöhnlich ein Erdbeben entsteht, wenn der Gründer verschwindet«. Und weiter: »Ich bin da ganz unbesorgt: Im Opus Dei wird das nicht geschehen.«

Doch auch bei treuester Aufnahme des Geistes des Werkes bliebe sein Eigenrecht toter Buchstabe, hätte der Gründer es nicht lebendig weitergegeben, als eine Art Lebensstil und Tradition, als Spiritualität, die der Art und Weise, sich zu heiligen, Kontinuität in der Zeit gibt. Beharrlich und liebevoll kümmerte er sich persönlich darum, es dem geistlichen Leben seiner Kinder einzuverleiben. In Vorträgen, Betrachtungen, Beisammensein gab er ihnen praktische Anweisungen, vertrauliche Ratschläge und erläuterte ihnen einzelne Momente der Geschichte des Werkes. In einem dieser familiären Beisammensein kam einmal zur Sprache, daß Álvaro im Begriff sei, ein Buch zu publizieren. Der Gründer begann dann laut darüber nachzudenken, welche Bücher er gerne schreiben würde; doch auf einmal gab er seinen Gedanken eine unerwartete Wendung. Er wies Álvaro auf die Gesichter der Anwesenden hin und rief aus: »Schau dir diese Bibliothek an! Das sind meine Werke!«

Doch das Opus Dei zu verwirklichen bestand nicht nur darin, einigen ausgewählten Seelen einen Weg der Heiligkeit im menschlichen Alltag zu zeigen. Der göttliche Plan war universal ausgelegt, um überall das christliche Leben von Männern und Frauen zu erneuern; dieser Geist der Erneuerung loderte als Gründungscharisma in der Seele des Gründers. Er sollte nach Gottes Willen eine breite Spur in der Geschichte hinterlassen. Und Gott bediente sich des Gründers, den Geist des Opus Dei in der Geschichte der Menschheit wirksam werden zu lassen. Dafür war er Gott persönlich und direkt verantwortlich: »Ich bin der Gründer«, sagte er, »und ich weiß, was der Herr von mir verlangt hat. Würde ich meine Verantwortung delegieren und mich ihr entziehen, dann setzte ich meine Seele aufs Spiel und der Herr würde mich sehr streng zur Verantwortung ziehen.«

Er konnte sich frei bewegen, aber er war nicht frei, um hinsichtlich seiner Sendung Kompromisse einzugehen. »Ich habe«, erklärte er, »die Aufgabe, das zu verteidigen, was dem Herrn gehört, und sollte es mein Leben kosten, denn er hat mich gebeten, es dafür einzusetzen.« Große Schwierigkeiten und Widerstände waren dabei abzusehen. Er mußte nicht nur »einen Berg von Unmöglichkeiten« bewältigen; von Anfang an sah er sich einem Klima ausgesetzt, in dem »das brutalste Unverständnis« herrschte.

Der hl. Josefmaria mit einigen seiner Söhne in Rom

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Er lebte aus dem Glauben und betonte, er würde nie »an der Göttlichkeit des Werkes noch an seiner Verwirklichung zweifeln« , selbst wenn Gott es zulassen sollte, daß er in dem Unternehmen allein bliebe. Er hoffte gegen alle Hoffnung, daß sich dem Werk Apostel anschließen würden. »Es werden viele kommen: Gott wird es machen!« schrieb er in seinen Aufzeichnungen im Jahr 1930. Und als sich seine vielen Gefolgsleute schon zu einer Familie formten, begann er allmählich sein Charisma als »Vater, Lehrer und Führer von Heiligen« zu leben.

Die geistliche Vaterschaft, weit und fruchtbar wie die der Patriarchen im Alten Testament, erfüllte ganz seine Seele. Deshalb sollte – so sein Wunsch – einmal auf seinem Grabstein stehen: GENUIT FILIOS ET FILIAS .

Anfangs war es ihm noch gar nicht so bewußt, daß er Träger dieser Vaterschaft war. Allmählich erkannte er jedoch überrascht, daß sie nicht rein spiritueller Natur war, sondern sich mit Zuneigung, mit einer glühenden Zuneigung verband. Er bemerkte auch, daß diese Liebe nicht nur Teil eines Gefühls war; es handelte sich eher um eine menschliche und übernatürliche Bindung an jene, die ihm auf dem Weg des Werkes folgten. Das weckte in ihm die Angst, er könnte dem Herrn Liebe schuldig bleiben. Doch Gott zeigte ihm, daß er ihn um so mehr liebte, je mehr er seine Kinder liebte. Dann überkam ihn ein anderer Zweifel. Würde seine Liebe denn ausreichen, wenn sie gleichermaßen allen galt? »Wenn wir einmal Tausende sind, aus der ganzen Welt, werden wir uns da noch in gleicher Weise lieben? Werde ich meine Kinder dann noch so lieben, wie ich sie jetzt liebe, da sie wenige sind?« fragte er sich.

Die Jahre vergingen, die Familie wuchs, und der Vater konnte seinen Kindern aus eigener Erfahrung sagen: »Ich freue mich, euch sagen zu können, daß meine Zuneigung zu euch so intensiv ist wie damals, obwohl ihr jetzt Tausende seid, und daß ich jedes einzelne meiner Kinder aus ganzer Seele liebe, als wäre es mein einziges. Der Herr, der mein Herz geweitet und zu all dem Wunderbaren befähigt hat, wird auch eure Herzen weiten, wenn ihr euch nicht von ihm trennt.«

Im Grunde war die Liebe des Vaters ein charakteristischer und wesentlicher Zug des Geistes des Opus Dei. Sie war Folge seiner Vaterschaft; und diese wiederum war eine Gabe des Heiligen Geistes, der ihn dazu bewegte, diese Liebe zu verbreiten, sie sich vermehren zu lassen, indem er andere mit ihr ansteckte. Voll Dankbarkeit erhob er daher wie der heilige Paulus seine Seele zu Gott, »nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird« . Seine geistliche Vaterschaft, die er mit dem Beistand Gottes übernommen hatte, lebte er »aus dem vollen Bewußtsein, daß ich nur dazu auf Erden bin, sie zu verwirklichen« .

Seine Kinder, bezeugt sein Bruder Santiago, »nannten ihn Vater, aber er war wie eine gute Mutter, wie die gute und liebevolle Mutter einer Familie« . Er umsorgte sie. Er merkte sofort, wenn einer abgenommen oder Kopfschmerzen hatte oder neue Kleidung brauchte. Seine Ratschläge hatten oft einen mütterlichen Ton: »Mach Dir jetzt keine Sorgen um die Leitung Deiner Region«, schrieb er einem Consiliarius in Amerika, »schlafe ordentlich, iß und ruh Dich aus.« Wenn er keine Nachrichten erhielt, fürchtete er, daß sich seine Kinder in Gefahr befanden; und dann gab er keine Ruhe, bis er wußte, daß sie gesund und wohlauf waren.

Eines Morgens erwachte Rom bei starkem Schneefall. Zwei Frauen der hauswirtschaftlichen Verwaltung waren schon vor sechs Uhr in der Früh zum Markt gefahren. Zwei Stunden später wollte der Vater wissen, ob sie Ketten auf den Reifen hatten. Er bat darum, sobald sie zurück seien, ihn zu benachrichtigen. Als der Vater kurz darauf erfuhr, daß alles in Ordnung war, meinte er: »Gott sei Dank. Richte ihnen von mir aus, sie hätten uns die ganze Zeit die Arme gekreuzt halten lassen, um dafür zu beten, daß ihnen nichts passiert. Sie sollen das nicht wieder tun.«

Der Vater spürte, was in seinen Kindern vorging, und nahm auch noch den leisesten Verdruß wahr. So erkundigte er sich, nachdem er ein Foto von einigen seiner Töchter aus Mexiko eingehend betrachtet hatte, konkret nach einer von ihnen. Und tatsächlich, sie hatte eine größere Sorge.

Als der Vater eines Tages sehr müde wirkte, gab ihm einer seiner Söhne, ein Arzt, den Rat: »Vater, was Sie tun müssen, ist, versuchen zu schlafen.« »Wenn ich schliefe, würde ich euch nicht lieben«, antwortete der Vater. »Es ist die Liebe, die mir den Schlaf raubt.«

Der Vater war seinen Kindern nahe und hielt sich doch gleichzeitig zurück. Nahe, wenn er ihnen, während sie beisammen saßen, Neuigkeiten aus der Familie des Werkes berichtete, wenn er ihnen als Vater vertrauensvoll sein Herz öffnete, wenn er ihnen vom Fortgang des Werkes und seiner Ausbreitung in der Welt erzählte. Doch aus Klugheit behielt er schmerzliche Ereignisse, Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten in der Leitungsarbeit für sich. Zudem hatte er als Gründer Erfahrungen gemacht, die er niemandem mitteilen wollte und die er seit den ersten Zeiten streng für sich behielt. Diese Zurückhaltung stellte keine Schranke dar. Im Umgang mit seinen Kindern herrschten volles Vertrauen und Natürlichkeit. Die Natürlichkeit eines Vaters und Freundes. Dabei erlaubte er sich, sie liebevoll zu titulieren: »Halunke, Gauner, Räuber« oder »Spitzbube«, und gelangte damit bis auf den Grund ihres Herzens. Ein besonders liebevoller Ton prägte seine Briefe, wenn er wußte, daß jemand in einer schwierigen Situation oder krank war. So schrieb er beispielsweise: »Lieber Quinito! Jesus möge Dich beschützen. Wer könnte Dich, Du Räuber, mehr lieben als der Vater? Auf dieser Erde niemand. Ist das klar?«

Und ein anderer: »Lieber Michael! Jesus möge Dich beschützen. Ich habe Dich in meinem vorigen Brief Spitzbube genannt, aber das war zu wenig, Du Säufer. Es lebe der Jerez! Jetzt im Ernst: Laß Dich pflegen, so wirst Du schneller wieder zu Kräften kommen.«

Es machte ihn nicht verlegen, die Tiefe und die Gründe für seine Liebe offen zu bekennen: »Ich liebe euch, weil ihr Kinder Gottes seid, weil ihr euch frei dazu entschlossen habt, meine Kinder zu sein, weil ihr euch bemüht, heilig zu werden, weil ihr sehr treu und sehr nett seid: Alle meine Kinder sind das. Ich liebe euch mit derselben Liebe, die eure Mütter für euch empfinden – mit eurem Leib und eurer Seele, mit euren Tugenden und euren Fehlern. Meine Kinder, ich freue mich sehr, so mit euch sprechen zu können! Wenn ich euch einmal irgendwo begegne, werde ich nicht in der Lage sein, es so zu tun. Ich gestehe, daß ich mir manchmal Zwang antun muß, um nicht weich zu werden, damit euch nicht ein paar Tränen in Erinnerung bleiben und ich euch nicht ständig sage, wie sehr ich euch liebe … Denn ich liebe euch mit demselben Herzen, mit dem ich den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist und die seligste Jungfrau liebe; mit demselben Herzen, mit dem ich meine Mutter und meinen Vater liebte. Ich liebe euch wie alle Mütter der Welt zusammen genommen: jeden in gleicher Weise, vom ersten bis zum letzten.«

Physisch gesehen fiel es ihm schwer, sich von seinen Kindern zu trennen. Geistlich gesehen waren ihm alle nahe. Von Rom aus wanderten seine Gedanken zu jenen, die draußen in der weiten Welt waren. War er außerhalb Roms, beeilte er sich, die Römerinnen und Römer nicht allein zu lassen: »Mit Herz und Kopf bin ich weiterhin mitten unter Euch«, schrieb er aus London an den Generalrat.

Seine Kinder waren sein Stolz und seine Stärke. »Was hätte ich ohne euch getan?« fragte er sich. »Ich spüre, wie dringend ich euch brauche; jeder von euch ist meine Stärke. Das ist so sehr die Wahrheit, daß ich euch in meinem Gebet oft voller Stolz dem Herrn zeige, wie die Mütter ihre Kinder herzeigen; und immer muß ich sagen: Herr, schau nicht auf mich, ne respicias peccata mea [schau nicht auf meine Sünden] … Ich müßte, Herr – so füge ich hinzu –, wie ein Wurm vor dir liegen, mit dem Gesicht zum Boden. Aber schau auf meine Kinder. Schau auf diese Pracht von Söhnen, von Töchtern, die dir ihre Jugend geben, ihr reines Herz; schau auf ihre Tugenden … Ich schmücke mich mit eurer täglichen Hingabe, meine Kinder, und so habe ich eine gewisse Autorität, um mit unserem Herrn zu sprechen. Seht ihr? Das ist meine Beglaubigungsurkunde: eure Hingabe.«

Der Vater war wachsam und losgelöst von allem in dieser Welt; von allem außer von seinen Kindern, die, wie er sagte, seine »Versuchung« waren, um die Arbeit zu unterbrechen und mit ihnen zusammen zu sein. Andererseits diente ihm ihre Zuneigung, die Aufmerksamkeit ihrer Liebe, mit der sie seine Fürsorge erwiderten, dazu, sein inneres Leben zu vervollkommnen, wie er ihnen anvertraute: »Mein Herz hängt an meinen Kindern; ich verberge das nicht, und ich denke, daß ihr es merkt. Doch es ist etwas, das mich zu Gott führt: Ihr drängt mich, treuer zu sein, und ich möchte gern immer treuer sein, auch um euretwillen.«

Ein einfacher liebevoller Satz war ihm ein Trost, auch wenn er von einem Kind kam, das er physisch nie kennengelernt hatte. So machte ihm ein Brief, den er inmitten einer großen Enttäuschung erhielt, eine solche Freude, daß er umgehend an den Consiliarius von Spanien schrieb: »Jenes ›Vater, wir lieben Sie sehr‹, das mir ein Bergarbeiter schreibt, um dann mehr oder weniger noch hinzuzufügen: ›Seien Sie nicht traurig, leiden Sie nicht‹, ist mir sehr nahegegangen.«

Die Liebe des Vaters und ihre Erwiderung schufen eine Beziehung, die dem ganzen Werk einen menschlich und übernatürlich starken Zusammenhalt, die ihm Einheit verlieh.

Der Gründer des Opus Dei mit einigen seiner Töchter in Rom

2. Temperament und Charakter

Die Liebe des Vaters zu seinen Kindern war eine Gabe Gottes, die ihrer Heiligung diente. Seine Vaterschaft und ihre Kindschaft waren nicht etwas Vorläufiges, sondern würden über den Tod hinaus fortbestehen, wie er ihnen erklärte: »Wenn der Herr mich einmal zu sich gerufen haben wird, werden fast alle von euch – das ist das Gesetz des Lebens – noch auf Erden sein. Erinnert euch dann an das, was euch der Vater gesagt hat: Ich liebe euch sehr, sehr, wie verrückt; aber ich will, daß ihr treu seid. Vergeßt das nicht: Seid treu. Ich werde euch auch dann lieben, wenn ich diese Welt verlassen habe und dank der unendlichen göttlichen Barmherzigkeit hingegangen bin, um mich Gottes zu erfreuen. Seid sicher, daß ich euch dann noch mehr lieben werde.«

In Gesprächen und Beisammensein mit seinen Söhnen und Töchtern verwies der Vater immer wieder auf den übernatürlichen Grund, der seine Zuneigung lenkte: »Meine Töchter« sagte er ihnen, »ich liebe euch sehr, aber ich möchte euch heilig.« Andere Male fragte er seine Söhne, die um ihn waren: »Meine Söhne, wißt ihr, warum ich euch so sehr liebe?« Es entstand für einen Moment Stille, und der Vater fuhr fort: »Weil ich das Blut Christi in euch pulsieren sehe.«

Eine vorrangige Liebespflicht des Vaters bestand in der Bildung seiner Kinder im Geist des Werkes. Seine Kinder hatten wie alle Menschen Fehler und Unvollkommenheiten, und manche kannten das Opus Dei erst seit wenigen Monaten. Seiner Pflicht, Lehrer und Führer von Heiligen zu sein, kam er unermüdlich nach: bei einer Unterhaltung, wenn er einen Rat erteilte, anläßlich einer Nachlässigkeit, einer schlecht verrichteten Arbeit oder mangelnden Urteilsvermögens. Der Vater sah alles, nicht nur die vom Aufwischen verbrauchten Hände seiner Töchter. Wenn er einmal einen kräftigen Tadel erteilen mußte, brach sein Temperament, das nicht gerade sanft war, durch.

Manchmal genügte ein Blick, um eine Lehre zu erteilen. Auch eine einfache Geste des Vaters konnte zu einer unvergeßlichen Lektion werden, was allerdings nicht sehr oft geschah. Eines Tages aß der Vater im kleinen Gästespeisezimmer eines Zentrums des Werkes in einer ländlichen Gegend. Als man ihm Wein einschenkte, bemerkte er, daß es sich um einen Markenwein handelte. Er wollte die Flasche sehen und hatte recht mit seiner Vermutung, auch wenn die Marke nicht sonderlich exquisit war. Im nächsten Moment stand er vom Tisch auf, dankte und ging weg, ohne zu essen. Es war eine Lektion der Nüchternheit. Eine Art und Weise zu sagen, daß er für sich keine Ausnahmen wollte und es keinen Anlaß für etwas Außergewöhnliches gab. Diese Lektion der Armut war für eine der Hausangestellten der Anlaß, sich dem Werk anzuschließen.

Viele Jahre lang pflegte der Vater den ein oder anderen seiner Söhne, der erst vor kurzem ins Römische Kolleg gekommen war, wenn er ihm auf einem Flur oder in einem der Innenhöfe der Villa Tevere begegnete, zu einer kurzen Runde einzuladen. Der Vater hängte sich dann gerne bei seinem Begleiter ein, und sie durchquerten plaudernd Zimmerfluchten, Innenhöfe, Kapellen … Ab und zu entdeckte der Vater einen kleinen Schaden: einen feinen Kratzer an der Wand, einen Riegel, der nicht richtig schloß, einen Fleck auf dem Fußboden. Nicht daß er auf der Jagd nach Fehlern war, vielmehr besaß er einen sechsten Sinn, fehlerhafte Dinge zu entdecken, an denen viele vorbeigelaufen waren, ohne sie zu bemerken, weil er die Welt mit Augen sah, »deren Pupillen die Liebe geweitet hatte« .

Hielt jemand den Stundenplan nicht ein, warf eine Tür zu oder war ein Werkzeug nicht an seinem Platz, schmerzte ihn das tief. Hinter diesen Kleinigkeiten verbarg sich eine Mißachtung der kleinen Dinge, es war schlecht getane Arbeit; und es war ein Zeichen von fehlender Liebe und Gottesgegenwart; letztlich Nachlässigkeiten, die langfristig zu geistlicher Lauheit führen würden. Handelte es sich um einen größeren Schaden, versammelte er das ganze Römische Kolleg. Hatte niemand den Defekt bemerkt? Waren sie im Begriff, unachtsam zu werden? Hatten sie ihn nicht tausend Mal sagen hören, daß die großen Seelen sehr auf die kleinen Dinge achten?

Sicher ist, daß er »vor, während und nach« einer Zurechtweisung mehr litt, als derjenige, dem der Tadel galt. Doch es war seine Pflicht, seine Kinder zurechtzuweisen, um sie Gott näherzubringen. Es war ein Akt der Liebe. Hätte er die Sache auf sich beruhen lassen, hätte das bedeutet, wie er seinen Kindern darlegte, »daß ich weder Gott noch euch liebte« . Tatsache ist, daß er tadelte, wenn immer es notwendig war. Er kannte dabei keine falsche Rücksicht: Er korrigierte unabhängig von Stellung, Erfahrung, Alter oder Gesundheitszustand des Betroffenen. Unermüdlich wiederholte er wie Hammerschläge Richtlinien und Lehren zu Fragen der Ordnung, der Armut, der Pflege der kleinen Dinge, des Abschließens von Arbeiten. War etwa ein Auftrag nicht erledigt worden, erkundigte er sich, was man zu tun gedenke. Begann dann der Verantwortliche Entschuldigungen zu stammeln: »Nun, es ist so, daß …«, unterbrach ihn der Vater auf der Stelle. »Es ist so, daß«, »Ich glaubte, daß« und »Ich dachte, daß« waren drei schreckliche »kleine Teufel«, die er aus dem Mund seiner Kinder nicht hören wollte. Er nützte dann die Gelegenheit, sie zu lehren, ihre Pflichten mit Initiative, mit Liebe, mit allen fünf Sinnen zu erfüllen, indem sie sich der Dinge und ihrer Erledigung beherzt annahmen. Gehorchen, erklärte er seinen Kindern, ist nicht etwas Mechanisches, ein blindes Sich-führen-Lassen: »Im Opus Dei, meine Kinder, gehorchen wir mit dem Kopf und mit dem Willen; nicht wie Kadaver. Mit Kadavern kann ich nichts anfangen; die begrabe ich pietätvoll.«

Die Zeugen waren sich alle darin einig, daß der Vater nicht die Ruhe verlor, wenn er sich an die harte Arbeit des Zurechtweisens machte. Und wenn er jemanden getadelt hatte, kümmerte er sich darum, den Betroffenen mit einem Lächeln oder einem netten Wort wieder aufzumuntern. Seinen Kindern riet er: »Mäßigt Euer Temperament und fällt keine Entscheidungen, wenn Ihr müde oder schlecht gelaunt seid. Wenn Ihr gelitten habt, laßt nicht auch die anderen noch leiden, denn wir töten einander schon genug ab, ohne daß wir es wollen.«

Der Vater kümmerte sich nicht nur um jeden einzelnen, sondern auch um den angemessenen Stil und die den Zentren des Werkes eigene Atmosphäre. Sein Beispiel und seine Wachsamkeit legte er in alles hinein.

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Vielleicht läßt sich das Verhalten des Vaters Frauen gegenüber am besten mit ›Ritterlichkeit‹ umschreiben. Ein Wort, das zahlreiche Tugenden einschließt: Loyalität, Ehrenhaftigkeit, Eleganz, Rechtschaffenheit, Höflichkeit, Zurückhaltung etc. Seinen Vater beschrieb er in diesem Sinne gern als einen »christlichen Ehrenmann«. Von Kind auf war ihm diese Haltung vertraut – zweitrangig, zweifellos, aber sehr bezeichnend –, die sein Elternhaus und sein eigenes Verhalten Frauen gegenüber prägte. Dorita Calvo erzählt, daß bei ihrer ersten Begegnung mit dem Vater im Studentinnenheim Zurbarán – das war im Jahr 1945 – etwas geschah, was sie beeindruckte: »Als ich dem Vater den Vortritt lassen wollte, fiel mir seine schlichte und ritterliche Art auf, denn er ließ es nicht zu, vor mir den Raum zu betreten.« Auch Kurt Hruska, sein Zahnarzt in Rom, beobachtete ähnliches: »Wenn er sich mit jemandem auf dem Praxisflur befand, trat er einen Schritt zurück und ließ den Damen höflich den Vortritt.« Und noch ein drittes Zeugnis, ein Brief an eine Nichte, bestätigt seine höfliche Zuvorkommenheit. Er verabschiedet sich darin folgendermaßen: »Für Mama, Papa (als Frauen müßt Ihr immer den Vortritt haben) und für jedes Deiner Geschwister viele Küsse. Für Dich außerdem eine Umarmung und einen liebevollen Segen von Josemaría. Ich schicke Dir eine sehr hübsche Medaille.«

Zweifellos war diese Höflichkeit – im Grunde Demut – Zeichen der guten Erziehung, die Josemaría als Kind genossen und sich zeitlebens bewahrt hatte. Er sah von einer Vorrangstellung ab, die ihm auf Grund seiner priesterlichen Würde zustand und gesellschaftlich gang und gäbe war. Diese seine höfliche Art steht jedenfalls in krassem Gegensatz zu seinem Verhalten, wenn er als Vater zurechtweisen mußte und dabei äußere Formen nicht zu achten schien.

Das geschah seinen Töchtern gegenüber mehr als einmal. Encarnación Ortega bezeugt: »Er hatte einen energischen und starken Charakter, mit dem er sein Leben lang zu kämpfen hatte. Ich kann mich erinnern, daß er mich manchmal, nachdem er mich sehr energisch zurechtgewiesen hatte, für die heftige Art um Verzeihung bat, obwohl er den Grund für den Tadel aufrechterhielt.«

Eine andere seiner Töchter ergänzt dieses Zeugnis durch folgende Worte des Vaters: »Ich liebe meine Töchter mehr als eine Mutter, auch wenn ich sie nie gesehen habe. Aber wenn ich nicht laut geworden wäre, wäre es mit dem Werk nichts geworden.«

Er ließ sich als Vater und geistlicher Lehrer auch niemals durch falsche Rücksichten, weil es sich um Frauen handelte, daran hindern, kleine Hysterien oder Launen seiner Töchter zu tadeln. So geschah es in Villa delle Rose, die in einem jämmerlich verschmutzten Zustand übernommen wurde, in dem sich nur die Mäuse wohlfühlten, die durch Räume und über Gänge liefen. Die drei Auxiliarnumerarierinnen, die nach Castelgandolfo gefahren waren, um das Haus herzurichten, das künftig Bildungskursen und Tagungen dienen sollte, malten sich aus, welche Ängste sie nachts durchstehen würden. Und eine von ihnen, Concha Andrés, sagte zum Vater, sie wollten zu dritt in einem Zimmer schlafen. Dazu meinte er: »Meine Töchter, wenn ihr euch jetzt fürchtet, wie werde ich euch dann in Kürze nach Afrika, in den Kongo … oder sonstwohin schicken können? Nein, meine Töchter, seid stark, und jede schlafe in ihrem Zimmer.«

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Zweifellos forderte der Vater sich selbst nicht weniger. Er hielt sich heroisch an die klare Devise: »im Schrittmaß Gottes, auch wenn es das Leben kosten sollte« . Dieser Satz half ihm, ausdauernd und starkmütig zu sein und alles, was ihm den Weg zu Gott verstellte, energisch zu beseitigen, Vorsätze rasch auszuführen, keine Ausflüchte zuzulassen nach dem Motto: das sei das letzte Mal gewesen. »Ich glaube nicht an die letzten Male«, sagte er, »das letzte Mal ist schon gewesen!«

Und wer sollte dem Gründer gegenüber die erforderlichen Korrekturen vornehmen? Nach dem zu urteilen, was er seinen Kindern vermittelte, hatte er den echten Wunsch, sich restlos zu fügen: »Ich wäre nur zu gern nicht im Opus Dei«, sagte er, »um sofort um die Aufnahme zu bitten, der Letzte zu sein und im Gehorsam das Leben zu verbringen.«

Bis zur endgültigen Approbation 1950 hatte der Gründer, um den Geist des Werkes unversehrt zu bewahren, in ›kindlichem Ringen‹ dem Heiligen Stuhl die Zustimmung abzutrotzen, daß er als Präsident Ermahnungen seitens der Mitglieder des Werkes erhalten dürfe. Das richtete sich gegen eine jahrhundertealte Tradition. Als Präsident sollte er seinen Untergebenen in nichts unterworfen sein. Den Gründer überzeugte dieses Argument jedoch nicht. Er sah keinen Grund, weshalb ihm nicht diese wunderbare Hilfe für seine Heiligung zuteil werden sollte, während alle anderen Mitglieder in ihren Genuß kamen. Und so argumentierte er: »Allen meinen Kindern steht ein Mittel zur Verfügung, das aus dem Evangelium stammt und in der brüderlichen Zurechtweisung besteht. Durch dieses Procedere verfügen alle anderen – auch wenn es ihnen wehtut und sie sich überwinden müssen und, wenn sie sie empfangen, demütig und abgetötet sein müssen – über ein wunderbares Mittel der Heiligung. Und ich, der ich ein armer Mensch bin, und jene, die mir folgen werden, die zwar besser als ich, aber auch nur arme Menschen sein werden, wir sollten dieses Mittel der Heiligung nicht haben?«

Schließlich erreichte er, was er wollte. Der Heilige Stuhl approbierte die Funktion der Custodes des Generalpräsidenten – heute: des Prälaten – des Opus Dei. Die Aufgabe der Custoden – damals Álvaro del Portillo und Javier Echevarría – bestand darin, den Vater in allen geistlichen und materiellen Belangen zu mahnen, ihn zu beraten und ihm zu helfen. Damit konnte der Vater seinen nachdrücklichen Wunsch, zu gehorchen, befriedigen. Er öffnete den Custoden seine Seele, beachtete ihre Anregungen, beriet sich mit ihnen hinsichtlich seines Arbeitsprogramms. Und wenn er ein Zentrum besuchte, überließ er sich den Händen des Direktors in allem, was den Stundenplan und die Hausordnung betraf. »Hier befiehlst du«, sagte er ihm. Mehr als einmal, erzählt Javier Echevarría, forderte der Vater ihn und Álvaro del Portillo auf, ihn bei der Liebe Gottes und der Liebe zu ihm auf alles Notwendige hinzuweisen. »Ohne mir etwas durchgehen zu lassen«, drängte er sie.

Der Vater war außerordentlich gelehrig und bereit, sein Urteil in einer bereits abgeschlossenen Angelegenheit zu ändern, sobald er über neue Daten oder Informationen verfügte, die ein erneutes Studium nahelegten, oder weil er dachte, er habe sich geirrt. Er zögerte nicht, seinen Standpunkt zu ändern, denn, so sagte er: »Ich bin kein Fluß, der nicht zurückfließen kann.« Er berichtigte sich gern und betonte: »Berichtigen macht die Seele geschmeidig« . Seinen Söhnen erzählte er, daß zweifellos eine der Gnaden, die der Herr ihm schon vor langer Zeit gewährt habe, seine Freude darüber sei, sich zu berichtigen; das sei keineswegs »eine Demütigung des Verstandes« . Der Vater gab oftmals zu, sich geirrt zu haben, so daß er seinen Custoden Javier Echevarría daran erinnerte, ihm frei alles zu sagen, denn, so versicherte er, »ich brauche und bin aus tiefster Seele dankbar für jedes Licht, um mich zu berichtigen, um besser zu werden, um etwas zu ändern, was bereits entschieden worden sein mag« .

* * *

Gott hatte ihm ganz ohne Zweifel zahlreiche Gaben gewährt, die für seine Sendung wichtig waren. Sie zu entfalten und zu verfeinern erforderte von ihm eine andauernde Askese, die von der Liebe geleitet war und darauf abzielte, ein geeignetes Werkzeug für die Pläne Gottes zu werden, auch wenn er sich immer für ein ungeeignetes und taubes Instrument hielt.

Wenn wir nun die signifikantesten Züge seines Charakters beleuchten, fällt auf, wie die noch formlosen Eigenschaften des Kindes mit den Jahren Gestalt annahmen, nicht als Folge eines biologischen Prozesses, sondern als Folge seiner Anstrengung, mit Hilfe der Eltern und der Gnade seine Leidenschaften zu zügeln und seine Fehler zu korrigieren. Er bändigte seine natürlichen Neigungen, doch blieben die Grundzüge seiner Persönlichkeit weiterhin erkennbar.

Sein Temperament war voll Kraft und Ungestüm. Er war noch ein Kind, als er einmal wütend den vollen Teller an die Wand warf, weil ihm das vorgesetzte Essen nicht schmeckte. Hatten sich Gäste angemeldet, pflegte er sich unter dem Bett zu verstecken, weil er sich genierte, so sagte er, den Besuch zu begrüßen. Seine Mutter ließ ihm diese unbegründete Schüchternheit jedoch nicht durchgehen und bedeutete ihm, unter dem Bett hervorzukriechen und sich zu zeigen.

Er war etwa elf, als er nach dem Tod seiner drei jüngeren Schwestern seiner älteren Schwester und ihren Freundinnen beim Spiel zusah. Sie waren dabei, ein Kartenhaus zu bauen, als Josemaría völlig unerwartet mit einem einzigen Handstreich die ganze Konstruktion umwarf. »Genau so macht es Gott mit den Menschen«, rechtfertigte er seine Aktion. »Du baust dir ein Schloß, und wenn es schon fast fertig ist, reißt Gott es nieder.« (Zu diesem Zeitpunkt war ihm das Geheimnis von Leid und Kreuz zweifellos noch nicht aufgegangen; die Begebenheit indes zeigt die Fähigkeit seiner Seele, sich in den Schmerz hineinzuversetzen.)

Auch in der Schule blieb sein impulsives Temperament nicht verborgen. Als ihn eines Tages der Mathematikprofessor an die Tafel rief und ihm unter anderem eine Frage stellte, die sie noch nicht behandelt hatten, schleuderte Josemaría entrüstet über die Ungerechtigkeit den Schwamm gegen die Tafel, drehte sich um und ging protestierend an seinen Platz zurück.

Ungestüm und Schüchternheit, Ungeduld und Energie, Rebellion und Gerechtigkeitssinn kennzeichneten sein Temperament. Zudem war er starrsinnig, wobei er diese Eigenschaft dank der festen Hand seiner Eltern bald überwinden konnte. Sein kindlicher Starrsinn verwandelte sich nach vielen Kämpfen in Hartnäckigkeit. Während seines Aufenthalts in Saragossa, in jenen Jahren, als er geduldig und beharrlich das Domine, ut videam! betete, erlangte der zukünftige Gründer Beharrlichkeit und Festigkeit, die er »heilige Hartnäckigkeit« nannte.

Die letzten Hinweise auf sein jugendlich sprühendes und impulsives Temperament enthalten seine Aufzeichnungen. Hier hält er insbesondere die aggressive Empörung fest, mit der er auf Beleidigungen reagierte, die ihm auf den Straßen Madrids in den Jahren 1930 und 1931 zugefügt wurden. Unter titanischer Kraftanstrengung gelang es ihm schließlich, seinen Charakter bis zu dem Punkt zu zügeln, daß er sein Ungestüm mit Gelassenheit und seine Stärke mit Milde zu vereinbaren lernte. Wer hätte je gedacht, daß aus dem explosiven Jugendlichen ein ›Mann des Friedens‹ werden konnte? »Nach so vielen Jahren beständigen und brüderlichen Umgangs weißt Du gut«, schrieb er an Casimiro Morcillo, »daß ich ein Mann des Friedens bin und daß ich dem Herrn eine unerschütterlich gute Laune und ein vollkommenes Fehlen von Zorn verdanke. Ich kann mich daher mit niemandem streiten.«

In der Tat, nachdem der Fehler seiner übermäßigen Leidenschaftlichkeit einmal bezwungen und von jeder Schlacke gereinigt war, wußte er sein lebhaftes Temperament harmonisch mit Liebenswürdigkeit im Umgang zu verbinden. Das bezeugen jene, die ihn am besten kannten. Javier Echevarría beschreibt ihn als »charakterlich fest und stark, rasch entschlossen und klar im Denken«. Und er fügt hinzu: »Jedoch zeigte er sich sein Leben lang immer umgänglich, liebevoll und liebenswürdig, entgegenkommend und aufmerksam den Bedürfnissen der anderen gegenüber.« Sich an seine immer nur kurzen Begegnungen mit dem Gründer erinnernd, sagt Dr. Hruska, sein Zahnarzt, »man habe den Eindruck gewonnen, er habe etwas Magnetisches an sich gehabt, eine Kraft und eine Ausstrahlung, die allen, die sich ihm näherten, das Gefühl gab, erhoben und leicht wie eine Feder geworden zu sein […]. Wenn er in die Praxis kam, empfand ich große Freude: mit ihm kam ein Hauch Glück und Heiterkeit herein, wie wenn ich ein Beruhigungsmittel genommen hätte.«

Sein Temperament, das nun einmal leidenschaftlich werden konnte, kam in seinen Worten und Gesten zum Ausdruck. Nicht aus mangelnder Selbstbeherrschung, sondern im Eifer des Gefechts konnte sich seine Energie im Bewältigen schwieriger Aufgaben, bei Zurechtweisungen und vor allem, wenn es um die Verteidigung seines geistlichen Erbes in Wort und Tat ging, entladen. Wie hätte er als Gründer ohne diesen ungestümen Charakter von unbändiger Stärke, Dynamik und heiliger Leidenschaftlichkeit bestehen können? Wie hätte er sonst das Unmögliche lösen und ungezählte Hindernisse beseitigen können in pausenlosem Kampf? Wie hätte er es sonst geschafft, den Kopf mit vielversprechenden Projekten voll zu haben und gleichzeitig eine Menge Sorgen zu bewältigen, die einen Großunternehmer niedergedrückt hätten? Wo also lagen die Vorteile seines spezifischen Charakters?

Um sein impulsives Temperament zu bändigen, mußte er einen fortwährenden asketischen Kampf führen; und diese überbordende Energiequelle, die er ganz in den Dienst seines Gründungsauftrages stellte, erlaubte es ihm, das Opus Dei kühn und energisch voranzubringen. Denn sonst, sagte der Gründer, wäre es mit dem Werk nichts geworden.

Ein anderer Charakterzug des kleinen Josemaría, der sich, wie bereits erwähnt, in seinem Verhalten Gästen gegenüber äußerte, war jene Mischung aus Verschämtheit und Schüchternheit, die er empfand, wenn Gäste ihn zum Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit machten. Alles Spektakuläre war ihm zuwider, er wollte sich nicht hervortun. Hauptrollen lagen ihm nicht. Er liebte die Einfachheit und Natürlichkeit und scheute alles Geschraubte, Feierliche und Gekünstelte.

An sein Motto »verborgen bleiben und verschwinden«, das seinem Charakter so sehr entsprach , hielt er sich, soweit nur möglich. Doch handelte es sich dabei um mehr als nur eine persönliche Verhaltensregel. Es ist »der klare Wille Gottes für mich« , schreibt er 1934. Es betraf einen Wesenszug des Geistes, den er als Gründer des Opus Dei empfangen hatte.

3. Die Torheiten der Heiligen

Ein Heiliger – was ist das? Ein Mensch, der versunken lebt in Gott, der sich aufmerksam um die liebevolle Erfüllung des göttlichen Willens bemüht und bereit ist, ihm mit all seinen Kräften zu dienen. Heilig ist, wer sich brennend danach sehnt, immer mehr in Gott zu leben, der Kopf und Herz bei Gott hat und ihm leidenschaftlich sein ganzes Leben zur Verfügung stellt.

Ein solches Verhalten kann als außergewöhnlich, ja als aus dem Gleichgewicht geraten, als maßlos, absonderlich, befremdlich und als irrational betrachtet werden. Nur aus seinem Bezogensein auf Gott, der die Ursache seiner ›Verrücktheiten‹ ist, ist der Heilige zu verstehen. Wie ein Verliebter ist er ganz erfüllt von allem, was die geliebte Person, in seinem Fall Gott, betrifft. Ist es daher verwunderlich, daß der Heilige die ›Torheiten eines Verliebten‹, Verzückungen und die ›Verrücktheiten der Liebe‹ durchmacht? Der Gründer dazu: »Die Verrücktheiten – Torheiten – der Heiligen sind weder Verrücktheiten noch Absonderlichkeiten: Sie sind vernünftige Weisen des Wirkens Gottes in den Seelen, zugeschnitten auf die Zeit, die konkreten gesellschaftlichen Umstände, die besonderen Bedürfnisse seiner Kirche und der Menschheit im jeweiligen Augenblick der Geschichte.«

Die großen Heiligengestalten sind gewöhnlich mit einer göttlichen Sendung für die Menschen beauftragt. Berufen, Völker zu bekehren, die Botschaft des Evangeliums in die Herzen der Menschen zu tragen oder den Lauf der Geschichte zu verändern, müssen sie Werkzeuge Gottes, gelehrige Kinder in seinen Händen sein und eine gigantische Arbeit leisten. Gott verleiht ihnen die Kraft dazu, er verwendet sie als gefügige Werkzeuge – als Propheten, Apostel, Reformer und Gründer – und steht ihnen mit seiner Gnade bei. Die großen Heiligen sind wie Ruder, die Gott verwendet, um die Welt neu auszurichten. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sie hoffnungslos mit ihrer Umgebung zusammenstoßen und für Träumer und Phantasten, ja für Verrückte, Häretiker und Schwärmer gehalten werden. Was sonst können sie erwarten als Verachtung, Ablehnung, Verfolgung.

»Wir müssen davon überzeugt sein, daß die Heiligen – wir halten uns nicht für Heilige, aber wir wollen heilig werden – notwendigerweise unbequem sind«, schrieb der Gründer 1932, weil sie »durch ihr Beispiel und ihr Wort für jene Gewissen, die mit der Sünde paktieren, einen dauernden Anlaß der Beunruhigung darstellen.«

Wer also darum kämpft, heilig zu werden, ist, das war Escrivá von Anfang an bewußt, für die Gesellschaft, in der er lebt, lästig und hinderlich. Unschwer stand ihm vor Augen, was ihn und seine Kinder bei der Umsetzung der apostolischen Projekte in der ganzen Welt erwartete. Sein erstes Bemühen galt daher der Bildung jener, die ihm folgten. »Wer nicht entschlossen ist, wirklich heilig zu werden, soll gehen« , sagte er ihnen. Der Heilige ist unbequem. »Doch das bedeutet nicht, daß er unerträglich sein müßte. Sein Eifer darf niemals bitter, seine Zurechtweisung niemals verletzend, sein Beispiel niemals eine moralische Ohrfeige sein, mit der er seinen Gegnern ins Gesicht schlägt.«

Der hl. Josefmaria betet in Fatima den Rosenkranz

Bittere Erfahrungen der Ablehnung und des Widerspruchs im Laufe der Jahre ließen den Gründer nicht ohne eine Prise Humor wiederholen, daß der Heilige als unbequem empfunden wird: »Ich denke oft, daß Gott, unser Herr, mit uns auch seinen Spaß hat: Er legt Wünsche der Heiligkeit in unser Herz … und siehe da, die Heiligen waren immer oder fast immer Störenfriede … unbequem, dickköpfig.«

Escrivás Streben nach Heiligkeit und das großzügige Wirken der Gnade durch ihn bewirkten, daß er bei den Leuten im Ruf eines Wundertäters stand. In den vierziger Jahren war er in Spanien als ›der wundertätige Priester‹ bekannt. Seinem Wesen nach konnte ihm nichts mehr zuwider sein. Nichts widersprach seinem Motto »mich verbergen und verschwinden« mehr als die Tatsache, als öffentliches Kuriosum erachtet zu werden, als exotischer Vogel, wie er sagte. Und er machte sich Luft: »Ich verstehe nicht, warum sie kommen wollen, um mich zu sehen, der ich ein beleibter und unbedeutender Priester bin. Sie kommen, um den komischen Vogel zu besichtigen, um zu sehen, ob ich Wunder wirke: Was soll das mit den Wundern! Es geschehen Dinge, die nach dem Urteil der Leute über das Normale hinausgehen, aber es sind gewöhnliche Dinge. Und wenn der Herr etwas machen möchte, was über das Normale hinausgeht, ist es der Herr, der es wirkt, nicht ich, nicht dieser Priester.«

Um den Geist des Opus Dei beispielhaft leben zu können, bat er Gott, ihn nicht aus der gewöhnlichen Vorsehung, die ihm hinreichend außergewöhnlich erschien, herauszunehmen und das Ringen seiner Kinder um Heiligkeit sowie sein eigenes unbeachtet bleiben zu lassen. Für sie sollte nicht gelten, daß es zwei Heilige braucht, um einen auszuhalten. Das Wunder des Gewöhnlichen war ihm genug. »Ich bin ein Feind von allem, was über das Normale hinausgeht. Mir widerstreben Phantastereien« , versicherte er ihnen, denn man muß »mit beiden Beinen auf dem Boden stehen, um Gott wirklich zu dienen, und andererseits dabei immer auf ihn ausgerichtet sein« . Der Vater war ohne jeden Zweifel Realist. Der Träumerei stutzte er sofort die Flügel. Er lehrte seine Kinder, daß es in ihrem Leben nur selten Gelegenheit zu glanzvollen heroischen Leistungen und aufsehenerregenden Großtaten geben werde. Die Heiligkeit lag für ihn im ständigen Fluß des Lebens, in den sich wiederholenden Situationen und Ereignissen, im Normalen, Alltäglichen, Gewöhnlichen. Es sind die kleinen Sorgen eines jeden Tages, die Schwierigkeiten, die sich täglich einstellen und die wir aus Liebe zu Gott meistern, die dazu beitragen, uns zu heiligen. So erklärte er es seinen Kindern: »Es ereignen sich genau jene kleinen Dinge, denen man mit Liebe – in omnibus caritas! [in allem die Liebe] – begegnet und die uns heiligen müssen. Wenn es nicht so wäre, wäre dieses Leben der Kinder Gottes in seinem Opus Dei schon so etwas wie der Himmel. Und das kann nicht sein: Den Himmel müssen wir uns hier mit Hilfe der kleinen Dinge des täglichen Lebens erst verdienen. Wer sonst soll uns heiligen, etwa Bruder Johannes aus Südamerika?«

Der Vater bemühte sich, in seine gewöhnlichen Aufgaben Liebe hineinzulegen, jeden Tag ein wenig mehr. Es war ein glühendes Ringen mit sich selbst, um in der Liebe mehr und mehr zu wachsen. Javier Echevarría hielt manche seiner Aussagen fest. Im folgenden eine seiner Bemerkungen zur Verfeinerung der Liebe: »Man kann jemandem etwas schenken, indem man eine Firma telefonisch beauftragt; man kann einen anderen bitten oder sich selbst aufmachen, es zu besorgen. Der Empfänger wird vielleicht nicht wissen, welcher Weg gewählt wurde, doch sind Zuneigung und Anteilnahme des Schenkenden offensichtlich unterschiedlich, je nachdem. Gott sieht unsere Absichten: Es geht nicht darum, eine Pflicht zu erfüllen, sondern zu lieben!«

Sein Leben verzehrte sich stillschweigend in einer tiefinnerlichen Liebe. Das Feuer seiner Liebe hatte eine besondere Note, war Ausdruck seines persönlichen Stils. Wie der Maler sich durch einen unverwechselbaren Pinselstrich von anderen Malern unterscheidet, so ist es auch bei den Heiligen. Der Akzent, den der Vater setzte, trug das Siegel der Verliebtheit. Seine Sprache war die eines Verliebten; seine Träume und seine Gesten waren die eines Verliebten. Er sprach davon, den Herrn ›zu umwerben‹ und ihm ›den Hof zu machen‹; auf göttliche Weise menschliche Liebeslieder zu singen; er sprach von ›Gott liebkosen‹ … ›bis über beide Ohren verliebt sein‹ … ›unser Leben vergöttlichen‹ … ›vom Herrn eine Liebkosung erhalten‹ … ›uns in Gott versenken‹ …

Er wünschte den Tag herbei, an dem seine Töchter die Materie für die Feier der heiligen Messe, Wein und Brot, als Weintrauben und Getreide selbst anbauen würden. »Es geht darum«, erklärte er ihnen, »Gott, der in unseren Händen zur Welt kommt, zu liebkosen, indem wir die Gestalten vorbereiten, damit er in sie hinabsteige.« Als er einmal, wie er es zu tun pflegte, im Vorbeigehen an einem Tabernakel eine seiner tiefen und bedächtigen Kniebeugen gemacht hatte, wandte er sich erneut dem Tabernakel zu, um mit vernehmlicher Stimme um Verzeihung zu bitten: »Verzeih mir, Jesus, denn ich war mit dem Herzen nicht dabei.«

Seine Schriften und Predigten sind voll von Äußerungen der Liebe: stark und mystisch, zart und glühend: »Betrachte das Schönste und Größte auf der Erde … was die Vernunft und die geistigen Kräfte erfreut … was dem Körper und den Sinnen wohltut … Die Welt und die anderen Welten, die in der Nacht herüberleuchten: das ganze Universum. Denke dir alle Wünsche deines Herzens erfüllt … Das alles ist nichts, nichts und weniger als nichts im Vergleich mit diesem meinem Gott – deinem Gott! Diesem unendlichen Schatz, dieser kostbaren Perle, gedemütigt, Sklave geworden, zum Nichts geworden in der Gestalt eines Knechtes im Stall, wo er geboren werden wollte. In der Werkstatt Josefs, im Leiden, im schmachvollen Tod … Und in der Torheit seiner Liebe in der Heiligen Eucharistie.«

Die Predigt des Vaters – nicht ohne selbst Beispiel zu geben – führte direkt zu Gott, bevor sie sich in apostolischem Wirken auf der ganzen Welt niederschlug. Worum es ihm ging, ist mit einem Wort gesagt: »sich vergöttlichen« . Dafür empfahl er, eine göttliche Route, »den rechten Weg einzuschlagen, den Weg der heiligsten Menschheit Jesu Christi. […] Christus nachfolgen: darin besteht das Geheimnis. Ihn so sehr aus der Nähe begleiten, daß wir mit ihm zusammen leben wie die ersten Zwölf; so nahe, daß wir mit ihm eins werden […]. Aber vergeßt eines nicht: Bei Jesus sein heißt auch mit Sicherheit seinem Kreuz begegnen. Wenn wir uns in die Hand Gottes geben, läßt er es häufig zu, daß wir den Schmerz spüren, Einsamkeit, Widerwärtigkeiten, Verleumdungen, üble Nachrede, Spott, von innen und von außen; denn er möchte uns nach seinem Bild und Gleichnis gestalten, und so erlaubt er auch, daß man uns für verrückt hält und Narren nennt.«

Verliebt in Christus, eins mit Christus. Der Gründer des Opus Dei lud dazu ein, den Schatz der Gotteskindschaft zu entdecken, das Fundament des christlichen Lebens, das es den Gläubigen des Opus Dei ermöglicht, »in einem gleichzeitig glühenden und aufrichtigen, zärtlichen und tiefen Wunsch, als seine Brüder und Schwestern, als Kinder Gottes des Vaters Jesus Christus nachzuahmen und immer in der Gegenwart Gottes zu sein. Eine Kindschaft, die zu einem Leben des Glaubens an die göttliche Vorsehung führt und eine gelassene und frohe Hingabe an den göttlichen Willen schenkt.«

* * *

Der Reichtum, den die heiligste Menschheit Christi in sich birgt, nährte das innere Leben des Vaters. Er liebte Gott so sehr, daß er alle menschlichen Gefühle der Liebe auf eine übernatürliche und mystische Ebene hob. Aus Liebe verwandelte er seine Arbeit und seine Erholung in kontemplatives Leben. Aus Liebe bemühte er sich, das quid divinum, jenes göttliche Etwas, wie eine kostbare Perle in allen Ereignissen, ob bedeutend oder geringfügig, zu entdecken. In kindlicher Liebe nährte sich sein geistliches Leben aus der uns von Christus erlangten Gotteskindschaft. Im Handeln aus Liebe zu Gott gewann all sein Tun bis in die winzigsten Akte der Dienstbereitschaft einen übernatürlichen Wert. Wie kann man die menschlichen Tugenden vernachlässigen oder geringachten, da sie doch unser Leben gewissermaßen wie ein Netz tragen. Mit einer Prise Humor schreibt er im Weg: »Denken wir ja nicht, daß unsere scheinbar heiligmäßige Tugend etwas wert sei, wenn sie nicht mit den elementaren Tugenden der Christen verknüpft ist. Das hieße, Juwelen auf der Unterwäsche tragen.«

Die menschlichen Tugenden, die einen Apostel, der inmitten der Gesellschaft lebt, kennzeichnen müssen, sind keine beliebige Haltung, sondern Fundament der übernatürlichen Tugenden, wenn wir uns bemühen, sie auf die übernatürliche Ebene zu heben. »Es ist wahr, daß niemand ohne die Gnade Christi gerettet wird. Doch einem Menschen, der ein Minimum an Rechtschaffenheit bewahrt und pflegt, wird Gott den Weg ebnen; dieser Mensch wird heilig werden können, weil er es verstanden hat, als guter Mensch zu leben.«

»Ich könnte nicht sagen«, schreibt er an anderer Stelle, »welche der natürlichen Tugenden die wichtigste ist, denn das hängt davon ab, unter welchem Gesichtspunkt wir sie betrachten. Außerdem ist diese Frage überflüssig, weil es nicht darum geht, nur die eine Tugend oder allenfalls einige Tugenden zu praktizieren: Notwendig ist vielmehr, daß wir darum kämpfen, sie alle zu erwerben und zu leben. Jede einzelne Tugend hängt mit allen anderen zusammen; so macht uns etwa das Bemühen um die Aufrichtigkeit auch gerecht, froh, klug und gelassen.«

Der Vater lebte die menschlichen Tugenden im täglichen Leben unauffällig. Großzügig legte er sein Herz und seine gute Erziehung noch in die gewöhnlichsten Handlungen. Im familiären und gesellschaftlichen Umgang verhielt er sich sehr feinfühlig. Er versuchte, sowohl die Vorlieben eines jeden wie auch das, was ihm unangenehm war, herauszufinden; er wartete den geeigneten Moment ab, um jemandem etwas mitzuteilen, oder sah ganz davon ab; im Gespräch verstand er es, zuzuhören, nicht unnötig zu unterbrechen; er mäßigte seine Ungeduld; er vermied Diskussionen, begegnete jedem mit Respekt und Liebenswürdigkeit und vermied den Müßiggang; zu Hause achtete er auf gepflegte Kleidung, wahrte Ordnung und hatte einen Blick für Dinge, die in Ordnung zu bringen waren. Alles das – zweifellos im Hause der Eltern erlernt – gehörte zum festen Bestand seiner Tugenden, von der Zuvorkommenheit bis zur Selbstverleugnung. Getan aus Liebe zu Gott, nährte es sein kontemplatives Leben.

Rein menschliche Erwägungen und Kriterien wendete der Gründer gerne auf das geistliche Leben an, wenn er beispielsweise schreibt: »Jeder hat in seinem Leben Leid erfahren. Es zeugt nicht von gutem Geschmack, wenn jemand davon spricht und so das geistliche Verdienst verliert, das darin liegen mag.« Man hätte wohl erwartet, daß jemand, der aus Liebe zu Christus in seinem Leben so viel gelitten hat, daran eine bedeutendere Überlegung geknüpft hätte als die, vom Verlust eines übernatürlichen Verdienstes zu sprechen, wie er es bei anderen Gelegenheiten getan hat, etwa wenn er schreibt: »Der Anblick eines Kruzifixes ist mir Grund genug, daß ich nicht wage, von meinen Leiden zu sprechen.« Aber nicht darum geht es ihm, sondern um ein Gespür für gutes Benehmen und Wohlerzogenheit, um ein Gespür für menschlichen Umgang, der, von sich selbst zu sprechen, sich zum Mittelpunkt des Gesprächs zu machen und die Mitmenschen mit den eigenen Nöten zu beschweren, ›schlechten Geschmack‹ verrät und wenig elegant ist.

Die praktische Frömmigkeit des Gründers war immer auch Ausdruck des Geistes des Opus Dei. So war sein Umgang mit den Engeln voll Vertrauen, Natürlichkeit und Verehrung. Diese Andacht wurde ihm gewissermaßen schon in die Wiege gelegt. Bereits als kleines Kind betete er: »Mein Schutzengel, du guter Begleiter, verlaß mich nicht, weder bei Tag noch bei Nacht.« Nie unterließ er dieses Gebet. Aus dem ständigen Umgang mit den Engeln erwuchs eine echte Freundschaft. Als junger Priester begann er dann auch, seinen sogenannten Dienstengel anzurufen. So stark war sein Glaube, daß er in seinen Persönlichen Aufzeichnungen eine Reihe von Gebetserhörungen durch Einwirken der Engel festhielt: »Ich beanspruche nicht, daß die Engel mir gehorchen«, schreibt er. »Aber ich bin mir vollkommen sicher, daß die heiligen Engel mich immer hören.«

In diesem Zusammenhang erzählt Álvaro del Portillo, daß der Vater, wenn er nach dem abendlichen Beisammensein mit seinen Söhnen den Raum verließ, stets einen kurzen Augenblick innehielt, bevor er über die Türschwelle trat, um seinen beiden Engeln den Vortritt zu lassen. Diese Geste der Höflichkeit bemerkten nur jene, die in das Geheimnis eingeweiht waren. Zeigt sie nicht den lebendigen Glauben des Gründers und die natürliche Art und Weise seines Umgangs mit den Schutzengeln? Erinnert sie nicht auch an seine Gewohnheit, anderen den Vortritt zu lassen?

* * *

Unter allen christlichen Tugenden, die der Gründer praktizierte, ist eine besonders hervorzuheben, seine Großherzigkeit. Unter anderem weil sie viele andere natürliche Tugenden voraussetzt und weil sie direkt und schnell zur vollkommenen Hingabe führt und den Menschen befähigt, sich Gott ganz zu geben. Josemaría trug diese moralische Kraft schon als Junge in seinem Herzen, so daß er sich an einem Wintertag Gott mit einem Mal bedingungslos hingab, als er die Spuren bloßer Füße im Schnee gewahrte. Wenn Escrivá von dieser Tugend spricht, steht ihm, so scheint es, seine ganze Jugendzeit vor Augen: »Großherzigkeit, das bedeutet: großes Herz, weite Seele, offen für viele. Sie ist die Kraft, die uns befähigt, aus uns herauszutreten und uns bereitzumachen, Großes zum Wohle aller zu vollbringen. Im Großherzigen kann sich die Engherzigkeit nicht einnisten; Knauserei, egoistische Berechnung und auf Vorteil bedachtes Intrigieren kennt er nicht, denn der Großherzige stellt seine Kraft vorbehaltlos in den Dienst dessen, was sich lohnt. Er ist fähig, sich selbst hinzugeben. Nur geben genügt ihm nicht, er gibt sich selbst. Und so geht ihm schließlich der höchste Erweis von Großherzigkeit auf: sich Gott hinzugeben.«

Zeitlebens behielt der Vater diese Seelengröße, die er so sehr brauchte, damit das Gründungscharisma seine Wirksamkeit entfalten konnte, wie es der Natur des Werkes, eines universalen Unternehmens göttlichen Ursprungs, entsprach. Gleichzeitig mit der Erwählung zum Gründer gewährte ihm Gott das ständige Bewußtsein, daß von seiner Seite keinerlei Verdienst vorlag. So ruhte das geistliche Leben des Vaters auf der radikalen Erkenntnis, daß er nichts vermochte und nichts war. Oft qualifizierte er sich selbst als »räudigen kleinen Esel«, als »schmutzigen Putzlappen«, als »taubes und ungeeignetes Werkzeug«, als »einen Sack von Erbärmlichkeiten«, als »nichts und weniger als nichts«. Er sah sich in der Gegenwart Gottes als »Gründer ohne Grundlage«, als »Schwäche, der die Gnade Gottes beisteht«, als »einen sehr großen Dummkopf«. Alles in allem »ein armseliges Rinnsal von Erbärmlichkeit und Liebe«, »ein Sünder, der Jesus Christus wie verrückt liebt«. Auf seinem Grabstein sollte stehen: Peccator, Sünder, mit der Begründung: »Denn das bin ich und als solcher fühle ich mich.« Diese Definitionen kamen ihm spontan von den Lippen, er mußte nicht erst lange danach suchen. So bewegte er sich zwischen Größe und Geringfügigkeit, zwischen Großherzigkeit und Demut.

Der Gründer erfüllte seine Sendung großzügig und entschlossen, im Schrittmaß Gottes, bis zur Erschöpfung. Er war ein Mann beständigen Gebetes, dank dessen er das Opus Dei voranbrachte. »Javi«, erinnerte er einmal Javier Echevarría, »merk dir fürs Leben: das einzige Mittel, das wir im Opus Dei gehabt haben und immer haben werden, ist das Gebet. Beten! Immer beten! Denn auch wenn es einmal so aussehen sollte, daß wir über alle menschlichen Mittel verfügen, haben wir sie gleichwohl nicht. Die Quintessenz des Opus Dei ist allein das Gebet.«

Er war wahrhaft ein Mann des Gebetes; doch als Gründer eines großen apostolischen Unternehmens war er auch zum Handeln berufen. In einem wahrhaft beschaulichen Leben vereinte er beide Aspekte. Das lehrte er mit Wort und Beispiel auch seine Kinder, denen er auf hundert verschiedene Weisen nahelegte, sie müßten kontemplativ sein inmitten der Welt.

Als der Vater an einem Nachmittag im Sommer mit seinen Söhnen in Castelgandolfo zusammen saß und der Leiter zur gegebenen Stunde darauf hinwies, es sei die Zeit für das Gebet gekommen, erwiderte der Vater: »Und was wir jetzt gerade tun, ist das etwas anderes als beten?« Eine seiner Töchter erzählt, daß der Vater einmal nach einer Dreiviertelstunde Schreibtischarbeit sagte: »Während ich mich mit diesen Papieren beschäftigte, war ich mit meinem Kopf und meinem Herzen beim Tabernakel; und das bin ich eigentlich immer von meinem Arbeitsplatz aus.«

Sein Programm war einfach: »Wir müssen unser Leben vergöttlichen, wir müssen uns vergöttlichen, uns restlos in die Liebe Gottes versenken, damit er durch einen jeden von uns handeln kann.« Ein paar Sekunden – ein Gedanke, ein Stoßgebet – waren ihm genug, um einzutauchen in Gott. Danach trug er das Feuer, das ihn in seinem Inneren verzehrte, in seine Aufgaben hinein; und er arbeitete voll Eifer, indem er sich gab und verausgabte, denn »die Werke Gottes tun ist kein hübsches Wortspiel, sondern eine Einladung, sich aus Liebe zu verausgaben« . Im Gedanken an die vielen Menschen, die das übernatürliche Gespür verloren und Gott zu dienen vergessen haben, war der Vater bestrebt, im verborgensten Eckchen still und wirksam zu arbeiten. Er hielt es für wunderbar und beneidenswert, »sich im letzten Winkel zum Wohl der Seelen zu verschleißen« .

Er gab sein Leben hin, indem er das Opus Dei treu und gewissenhaft verwirklichte. Arbeit gab es mehr als genug. Was er 1964 in einem Brief schrieb, hätte er an jedem anderen Tag seines Lebens festhalten können: »Ich habe viel Arbeit zu erledigen – die Arbeit ist in unserem Opus Dei eine ansteckende und unheilbare Krankheit. Und ich brauche Euer Gebet, damit ich diese ganze Arbeit mit Schwung voranbringe und damit ich gut, treu und froh bin.«

Der Gründer bahnte ungezählten Seelen neue Wege des inneren Lebens, hob ihr religiöses Sehnen und Trachten und wies der Gesellschaft neue Ziele. Es fehlten ihm Arme, um von früh bis spät im Weinberg des Herrn tätig zu sein. Und wollte Gott, daß jene nicht ausfielen, die er hatte: »Im Werk können wir uns nicht den Luxus leisten, krank zu sein. Ich pflege daher den Herrn zu bitten, er möge mich bis eine halbe Stunde vor meinem Tod gesund erhalten. Es gibt viel zu tun, und wir müssen wohlauf sein, um für Gott arbeiten zu können. Deshalb müßt Ihr auf Euch achtgeben, um erst im Alter, im hohen Alter, ausgepreßt wie eine Zitrone zu sterben, indem Ihr von nun an den Willen des Herrn annehmt.«

Starb eines seiner Kinder, verhehlte der Vater nicht seinen Schmerz. Er ging zum Tabernakel, um mit dem Herrn zu sprechen und sich kindlich zu beklagen. Doch dann kamen ihm Gedanken wie: »Gott weiß mehr. Er ist nicht wie ein Jäger, der aus dem Hinterhalt angreift. Gott ist wie ein Gärtner, der die Blumen pflegt, sie begießt, sie schützt; und er pflückt sie erst dann, wenn sie am schönsten sind, kräftig und üppig. Gott nimmt die Seelen zu sich, wenn sie reif sind.« Dann gab es keinen Grund mehr, sich zu beklagen, auch wenn es schmerzlich blieb, daß Gott diese seine Kinder zu sich genommen hatte, die noch so viel in diesem Leben hätten geben können.

4. Geistlicher Lehrer

Um die heiligste Menschheit Christi besser betrachten zu können, empfahl der Gründer, die Leidensgeschichte des Herrn zu lesen: »In den ersten Jahren meiner priesterlichen Arbeit verschenkte ich oft die Heilige Schrift oder Bücher, die das Leben Christi nacherzählen. Wir müssen sein Leben gut kennen, es ganz im Kopf und im Herzen tragen, damit wir es in jedem Augenblick ohne die Hilfe eines Buches mit geschlossenen Augen wie einen Film vor unserem inneren Blick vorbeiziehen lassen können. Die Worte und Taten des Herrn werden uns auf diese Weise in den verschiedenen Situationen unseres Lebens begleiten.«

Ihn beglückte »das Wunder, daß ein Gott mit dem Herzen eines Menschen liebt« ; und ihn verlangte danach, sich jederzeit an die Leiden des Erlösers zu erinnern, der, um die Welt zu retten, liebt und leidet: »Betrachten wir den Herrn, am ganzen Leib geschunden aus Liebe zu uns. Vor Jahrhunderten schrieb ein geistlicher Autor ein Wort, das der Wirklichkeit nahekommt, auch wenn es sie nicht ganz erfaßt: Der Leib des Herrn ist ein Schaubild der Schmerzen.«

Der Ton in den Schriften geistlicher Autoren, die Escrivá gern verschenkte, ist äußerst realistisch. Der Traktat über Gebet und Betrachtung des heiligen Petrus von Alcántara aus dem Jahr 1533 ist in einem geschliffenen, kraftvollen und gelegentlich pathetischen Stil gehalten. Im Ecce homo betrachten wir Jesus mit der Dornenkrone: »Wenn ich die Augen öffne und jenes so schmerzliche Schaubild betrachte, das sich mir darbietet, möchte es mein Herz vor Schmerz zerreißen […]. Versetze du dich an die Stelle dessen, der leidet, und schau, was du fühlen würdest, wenn dich an einem Körperteil, der so empfindlich ist wie der Kopf, viele und lange Dornen, die bis auf den Knochen eindringen, stechen würden. Was sage ich Dornen? Wäre es ein einziger Nadelstich, du könntest ihn kaum ertragen.«

Das Leben Jesu Christi von Luis de Granada stammt aus dem Jahr 1574. Das Ecce Homo wird hier so beschrieben: »Sieh, wie das göttliche Antlitz ausschaut: angeschwollen von den Schlägen, geschändet vom Anspucken, zerkratzt von den Dornen, von Blut überzogen, an manchen Stellen von neuem und frischem, an anderen von häßlichem und schwärzlichem Blut. […] Er erschien so, daß er dem, der er gewesen war, nicht mehr ähnlich sah, ja er glich kaum mehr einem Menschen, vielmehr einem Schaubild der Schmerzen, von der Hand jener grausamen Maler und jenes üblen Statthalters gezeichnet.«

Escrivá verschenkte auch gern die Geschichte der Heiligen Passion des Jesuiten Luis de la Palma, 1624 in Alcalá herausgegeben. Barock und würdevoll im Stil, ist das Buch gelehrt, fromm und überaus wortreich. Die in beredter Lebendigkeit geschilderten Szenen prägen sich tief dem Gedächtnis ein. Die Szene, in der Jesus dem Volk vorgeführt wird, beschreibt der Verfasser so: »Seine Augen strömten über von Tränen, und Blut tropfte von seinem Haupt; die Wangen waren gelb, farblos, von Blut verschmiert und geschändet vom Speichel, den sie ihm ins Antlitz gespuckt hatten; seine Beine zitterten vor Kälte wie auch vor Schwäche, und der ganze Körper war gedemütigt und gekrümmt von der Last der Schmach und vom Schmerz. Als Pilatus jenes Schaubild, elend genug, um das Mitleid wilder Tiere zu erregen und steinerne Herzen zu erweichen, zur Seite und nahe bei sich hatte, sprach er, als es still wurde, mit lauter Stimme: […] Ecce Homo.«

Die klassischen Autoren waren voll Realistik und Kraft. Der heilige Petrus von Alcántara, ein Franziskaner, entwirft ein gotisches Schaubild, dessen Züge stark vom Schmerz gezeichnet sind. Der Dominikaner Luis de Granada zeichnet es renaissancehaft, eingefärbt vom vergossenen Blut. Escrivá fügt all dem in seiner Version eine persönliche Stellungnahme hinzu. Er beschreibt die Verurteilung Jesu zum Tode so:

»Die Dornenkrone, mit schweren Schlägen ins Blut getrieben, macht ihn zum König des Hohnes … ›Ave Rex Iudaeorum!‹ – Sei gegrüßt, König der Juden. Mit Schlägen verwunden sie sein Haupt. Und sie ohrfeigen ihn und spucken ihn an.

Mit Dornen gekrönt und mit Lumpen aus Purpur bekleidet wird Jesus den Juden vorgeführt: ›Ecce homo!‹ Seht, welch ein Mensch! Die Hohenpriester und die Diener beginnen von neuem zu schreien: Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!

Haben wir, du und ich, ihn nicht aufs neue mit Dornen gekrönt, ihn geohrfeigt und ihn angespuckt?

Nie wieder, Jesus, nie wieder …«

Und seine Worte zum Ecce Homo: »Das Herz erschaudert beim Anblick der Heiligsten Menschheit unseres Herrn, zu einer einzigen Wunde geworden […]. Blicke auf Jesus. Jede Wunde klagt an, jede Geißelstrieme mahnt zur Reue wegen der Beleidigungen, die du und ich ihm zugefügt haben.«

In solchen Erwägungen, die zur Reue und zu Vorsätzen für ein neues Leben bewegen, liegt die Kraft seines Stils. Manchmal genügt ein Blick Jesu inmitten des Gewühls der Menge, die zum Kalvarienberg unterwegs ist: »Lautes Stimmengewirr der Menge, nur manchmal durch ein kurzes Schweigen unterbrochen, wenn der Blick des Herrn auf jemandem von ihnen verweilt: Wer mir nachfolgen will … nehme täglich sein Kreuz auf sich und so folge er mir!«

Das Betrachten des Leidens Christi macht den Christen stark, führt ihn näher an seinen Meister heran, weckt in seiner Seele Regungen der Reue und der Dankbarkeit. Doch gibt es auch Seelen, die beim Gedanken an die Passion des Herrn nicht in Tränen des Schmerzes und der Liebe ausbrechen. Könnte es sein, fragt sich der Gründer, »daß du und ich das Geschehen nur betrachten, jedoch nicht ›erleben‹?« Und dann erklärt er uns, wie wir Jesus aus der Nähe folgen können: »Schlag das heilige Evangelium auf und lies die Leidensgeschichte des Herrn. Aber lies sie nicht nur, sondern erlebe sie. Das ist ein großer Unterschied. Bloß lesen heißt sich Vergangenes in Erinnerung rufen; miterleben aber bedeutet dabeisein, unmittelbar am Geschehen, das sich hier und jetzt vollzieht, teilnehmen als einer mehr unter den Anwesenden.«

Diese seine Weise der Betrachtung floß auch in sein Büchlein Der Rosenkranz ein, das er 1931 ohne zu unterbrechen niederschrieb, dem Weg der geistlichen Kindschaft folgend, den ihm der Herr – wie schon erwähnt – gewiesen hatte. Jeder Christ sollte seiner Meinung nach die Leidensgeschichte im Gedächtnis tragen, um sie nach Belieben abrufen zu können. Ja, diese lebendige Gegenwart sollte die Form aktiver Teilnahme am Geschehen annehmen: »unsere Schultern hinhalten, wenn sie ihn geißeln, unseren Kopf für die Dornenkrone anbieten« . Besser noch, sich in die Wunden des Herrn versetzen.

Als Jesus nach vollbrachtem Opfer entseelt am Kreuz hängt, alles verloren scheint und Einsamkeit die Welt umfängt, bitten Nikodemus und Josef von Arimathäa Pilatus mutig um den Leichnam des Herrn: »Mit ihnen will auch ich an das Kreuz herantreten: mit der Wärme meines Herzens will ich Christus, seinem erstarrten, kalten Leichnam, ganz nahe sein … Mit meinen Sühneakten und Abtötungen will ich ihn vom Kreuz abnehmen … Mit dem Linnen eines reinen Lebens will ich ihn einhüllen. In meine Brust will ich ihn einschließen; in ihr soll er wie in einem lebendigen Felsen geborgen sein, und niemand kann ihn mir entreißen. Ich will zu ihm sagen: Ruhe dich aus, Herr! Auch wenn alle dich verlassen und verachten … serviam! – ich will dir dienen, Herr.«

* * *

Der Gründer lebte in allem gottverbunden. Kraft der Lebenseinheit verwandelte er seine Arbeit in Gebet und seine Beschäftigungen in geistliche Betrachtung. Er sprach gern von einem »christlichen Materialismus«, von der göttlichen Spur, die in den weltlichen Aufgaben zu entdecken ist, und davon, daß wir, »um vergöttlicht zu werden, zunächst sehr menschlich sein müssen«: »Nein, meine Kinder! Es darf kein Doppelleben geben. Wenn wir Christen sein wollen, können wir diese Art von Bewußtseinsspaltung nicht mitmachen; denn es gibt nur ein einziges Leben, das aus Fleisch und Blut besteht, und dieses einzige Leben muß an Leib und Seele geheiligt und von Gott erfüllt werden, dem unsichtbaren Gott, dem wir in den ganz sichtbaren und materiellen Dingen begegnen.«

So lebte und so lehrte er. Für seine Betrachtung schöpfte er am liebsten aus dem Evangelium: Er betrachtete das Leben Jesu Christi, Marias und der Apostel und die Begegnungen des Herrn mit den Menschen von damals. Er konnte sich in die historische Erzählung hineinversetzen. Als er einmal in der heiligen Messe das Evangelium las, jene Szene des Gesprächs Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen, das uns im 4. Kapitel bei Johannes überliefert ist, entschlüpften ihm die Worte: »Was für eine Frau!« Nach der Messe erklärte er dem Ministranten, wie sehr er diese Frau bewunderte, die trotz ihrer Erbärmlichkeiten einer der wenigen Menschen war, die in Jesus den Messias erkannten und sich aufmachten, andere für ihn zu gewinnen.

Einige wenige Worte genügten ihm, um seinen Zuhörern den Charakter jener Personen, die uns im Evangelium begegnen, zu erschließen; und wenige Worte veranlaßten ihn zu ausführlichen Kommentaren, die gleichermaßen von einer tiefen übernatürlichen Sicht und von gesundem Menschenverstand zeugten. Etwa wenn er sich dem heiligen Josef zuwandte: »Jesus muß Josef wohl ähnlich gewesen sein: in seiner Arbeitsweise, in seinem Charakter, in seiner Redeweise. Kindheit und Jugend Jesu – und darin sein Umgang mit Josef – spiegeln sich wider in seinem Wirklichkeitssinn, in seiner Beobachtungsgabe, in seiner Art, sich zu Tisch zu setzen und das Brot zu brechen, in seiner Vorliebe dafür, die Lehre auf konkrete Weise, anhand von alltäglichen Beispielen, darzustellen.«

Wenn er das Leben Jesu betrachtete, gefielen ihm ganz besonders die Gleichnisse, die Sinne und Vorstellung herausfordern und so das kontemplative Leben befruchten: »Um das Gebet zu erleichtern«, riet er, »ist es gut, selbst das Geistlichste noch zu materialisieren, auf Gleichnisse zurückzugreifen. Die göttliche Lehre muß über unsere Sinne in unseren Verstand und in unser Herz gelangen: Somit wird es dich nicht mehr wundern, daß ich mit so großer Begeisterung von Booten und Netzen zu euch spreche.«

Besonders gefiel ihm das Gleichnis vom Hirt und den Schafen. Er sah sich selbst als Schaf Christi und als Hirt seiner Kinder im Opus Dei: »Das Bild von Christus und seinen Schafen zur Rechten und zur Linken erscheint mir so liebenswert, daß ich es in der Kapelle, wo ich für gewöhnlich die heilige Messe feiere, habe darstellen lassen. Und an anderen Orten habe ich als Gebetsansporn die Worte des Herrn anbringen lassen: Cognosco oves meas et cognoscunt me meae [Ich kenne meine Schafe und meine Schafe kennen mich] (Joh 10, 14), damit wir uns jederzeit daran erinnern, daß er, der Hirt der Herde, uns tadelt oder unterweist und belehrt.«

Auch um seine göttliche Sendung zu beschreiben, griff er zu biblischen Bildern, die er auf einzigartige Weise verknüpfte: »Wir können die ganze Herrlichkeit des göttlichen Rufes begreifen. Die Hand Christi hat uns vom Weizenfeld aufgelesen. Der Sämann preßt die Weizenkörner in seiner durchbohrten Hand, das Blut Christi durchtränkt das Saatgut. Dann wirft der Herr diesen Weizen in den Wind, damit er im Sterben Leben bringe und, in die Erde gesenkt und begraben, sich in goldenen Ähren vervielfachen kann.«

Er war immer auf der Suche nach dem Einfachen, dem Bekannten und Verständlichen. Er konnte die einfachsten und alltäglichsten Dinge übernatürlich auswerten. So führte ihn die Betrachtung der Natur unmittelbar zu Gott, in die Sphäre des Göttlichen. Als er einmal in der Nähe von Valencia am Strand des Mittelmeeres entlangspazierte, fiel sein Blick auf eine Baumreihe, die die Küste von den Feldern trennte. Die Bäume waren vom Wind zerzaust und verbogen und vom Meersalz arg mitgenommen. »So sollt ihr alle sein«, wandte er sich an seine Begleiter, »Bäume in der ersten Reihe, die sich verschleißen lassen, um die anderen Bäume der Kirche zu schützen.«

Begebenheiten des täglichen Lebens, die einen Bezug zum Evangelium bargen, konnten ihn tief bewegen und seine Betrachtung entzünden. Mit Eindrücken vom Landleben eröffnete er eine seiner Homilien: »Einmal – es ist schon sehr lange her – waren wir unterwegs durch die spanische Hochebene. Von der Straße aus sah ich in der Ferne eine Szene, die mich innerlich bewegte und die mir später oft beim Gebet geholfen hat: Einige Männer rammten Pflöcke in die Erde, spannten dann senkrechte Netze zwischen die Pflöcke und bauten so eine Hürde. Eine Weile später kamen die Hirten mit ihren Schafen und Lämmern heran. Sie riefen die Tiere beim Namen und führten sie einzeln in die Hürde hinein. Dort waren sie nun alle zusammen, geborgen.«

An einem Krankenbett

Alles, was in ihm die Gegenwart Gottes wachrief und ihn an seine Sendung erinnerte, bezeichnete Escrivá als »Wecker«: Worte oder Gegenstände, die ihn innerlich aufrüttelten. Zu diesen kleinen »menschlichen Tricks«, wie er sie auch nannte, zählten für ihn nicht nur fromme Dinge wie Kreuze, Marienbilder oder Worte aus der Heiligen Schrift. Es konnten die verschiedensten Gegenstände sein: Eselchen, Landkarten, eine Blume, ein Familienfoto, ein Ziegelstein … Bereits 1928, in den ersten Jahren seines Madridaufenthaltes, hatte er auf seinem Arbeitstisch einen Keramikteller aus Talavera stehen. Er war zerbrochen und mit Drahtklammern wieder zusammengefügt worden. In ihm sah er das Bild seiner eigenen Zerbrechlichkeit, das Gott in seiner Liebe wieder zusammengefügt hatte.

* * *

Der Gründer war ein Priester, der nur von Gott sprach. So definierte er sich auch gerne selbst. Er ging ganz und gar in seiner apostolischen Sendung auf und verwendete seine ganze Kraft darauf, die Heiligung inmitten der Welt zu predigen. Er tat es mit Leib und Seele. Durch seinen Umgang, anfangs mit Hunderten junger Leute, dann mit Frauen und Männern – Priestern und Laien –, besaß Escrivá, dessen seelsorgerische Arbeit eine Fülle von Gnaden begleitete, eine schwer zu übertreffende Kenntnis der menschlichen Seele. Seine Bücher sollten Frauen und Männer zu Beterinnen und Betern mit christlichem Urteilsvermögen werden lassen. In ihnen gab er seine priesterliche Erfahrung weiter, dabei ist vieles autobiographischer Natur. Er berichtet von seinen eigenen Kämpfen und Schwächen, mit denen Gott rechnet, damit wir Menschen heilig werden: »Ich prüfe mein Verhalten und erschrecke angesichts der Unzahl meiner Nachlässigkeiten. Ich brauche nur die wenigen Stunden, seit ich heute morgen aufgestanden bin, durchzugehen: wie viel Mangel an Liebe und Treue bereits. Dieses mein Verhalten schmerzt mich, aber es raubt mir nicht den Frieden. Ich werfe mich vor Gott nieder und sage ihm mit aller Klarheit, wie es um mich steht. Sofort verspüre ich die Sicherheit seines Beistandes und höre ihn auf dem Grunde meines Herzens langsam sagen: Meus es tu, du bist mein (Jes 43, 1)! Ich wußte, wie du bist, und ich weiß es: also vorwärts!«

Der Gründer war nicht aufzuhalten. Wie ein Eisbrecher bahnte er sich und anderen den Weg. Aus eigener Erfahrung spricht er zu uns von den Schwierigkeiten, die sich ihm entgegenstellten, von der Strategie, der er folgte, und von den Mitteln, die er einsetzte, um die Hindernisse zu überwinden. Und um aus Demut nicht immer von sich selbst zu sprechen, erzählt er vieles aus seinem Leben in der dritten Person: »Unser gemeinsamer Freund sagte mit ungeheuchelter Demut: ›Wie man es schafft zu verzeihen, mußte ich nicht erst lernen, denn der Herr hat mir gezeigt, wie man liebt.‹«

Wenn es darum ging, von vorbildhaftem Verhalten zu sprechen, wählte er die Anonymität: »Von einer Seele erzählt man …«, »Es gab einmal einen armen Priester …«, »Einer meiner Bekannten träumte einmal …«, »Ich weiß von jemandem, der …«. Schwächen hingegen zeigte er offenherzig als Lehre für die anderen.

Charakteristisch für seine Predigten und Schriften war die Wendung ›du und ich‹: Der Zuhörer sollte sich nicht alleingelassen fühlen, sondern ermutigt und angespornt, Entschlüsse gemeinsam zu fassen. In der geistlichen Leitung versäumte er es nicht, den Seelen zu helfen, einen Vorsatz zu fassen, auch wenn er noch so klein war. Er versuchte nie, ihnen eine bestimmte Gebetsmethode oder einen ausdrücklichen geistlichen Weg vorzuschreiben. Er führte die Seelen auf einer ansteigenden Ebene nach oben, half ihnen, ihr Frömmigkeitsleben zu intensivieren und gleichzeitig Fehler und Unvollkommenheiten auszumerzen.

Sein Wissen, seine Erfahrung und seine Gabe, Rat zu erteilen, machten Escrivá zweifellos zu einem Lehrmeister des inneren Lebens; nicht zuletzt auch die Tatsache, daß er die Höhen, die zur Heiligkeit führen, aus Erfahrung selbst kannte. Die feinfühligen Anregungen, von denen seine Bücher voll sind, zeigen, daß sein Wissen nicht vom Hörensagen oder aus der Theorie kam, sondern Frucht der eigenen Gewissenserforschung und des asketischen Kampfes war.

»Erlaube mir«, schreibt er in der Spur des Sämanns, »daß ich dir einige von den vielen klaren Zeichen mangelnder Demut ins Gedächtnis rufe:

zu denken, daß das, was du tust oder sagst, besser getan oder gesagt ist als das der anderen;

immer deine eigenen Vorstellungen durchsetzen zu wollen;

auf Auseinandersetzung zu bestehen, wenn du im Unrecht bist, oder sie stur und unerbittlich zu führen – falls du recht hast;

deine Meinung ungebeten und ohne daß die Nächstenliebe es verlangt, zum besten zu geben …«

Und so zählt er etwa zwanzig weitere Zeichen mangelnder Demut auf. Ein solcher die Meister des inneren Lebens kennzeichnender Scharfblick ist Frucht des Bemühens, sich selbst von Fehlern zu befreien: »Die persönlichen Fehler sind um so deutlicher erkennbar, je weiter man auf dem Weg des inneren Lebens voranschreitet. Dies rührt daher, daß die Gnade Gottes wie ein Vergrößerungsglas wirkt und auch noch einen winzigen Staubpartikel oder ein kaum erkennbares Sandkorn riesengroß erscheinen läßt; denn die Seele erlangt ein hohes Feingefühl für das Göttliche, und das Gewissen, das nur an der Reinheit Gottes Gefallen finden kann, stößt sich bereits am leisesten Schatten.«

5. Leidenschaftlich lieben

Wenn wir auf der Suche nach den entscheidenden Ereignissen im Leben des Gründers vor das Jahr 1928 zurückgehen, stellen wir fest, daß der Herr ihn schrittweise vorbereitete, um ihm die wunderbare Last eines göttlichen Unternehmens aufzuladen. Die Erwählung geht zurück an den Ursprung der Welt, denn Gott hat, wie der heilige Paulus an die Epheser schreibt, »uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott« – ein Satz, der das Herz Josemarías mit Wonne erfüllte, denn »gibt es eine größere Freude, als sich auf solche Weise vom Schöpfer des Himmels und der Erde geliebt zu wissen?« Wie die großen Heiligen und Helden der Geschichte stieß er eines Tages auf ein lebendiges Symbol dieser Liebe Gottes, dessen Anblick ihn »in seliger Bestürzung« erzittern ließ. Wahrhaftig ist »die Begegnung Gottes mit jedem Menschen unaussprechlich und unwiederholbar« . Es war Gott, der ihn gerufen hatte: Ego vocavi te nomine tuo: meus es tu! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst mir! Sooft er auf diese Worte des Propheten Jesaja stieß, weckten sie in seiner Seele unaussprechliche Erinnerungen: »Ich weiß nicht, ob es dir auch so ergeht wie mir – aber es drängt mich, dir meine Erfahrung anzuvertrauen: Ich fühle mich im Innersten getroffen, wenn ich die Worte des Propheten Jesaja lese: Ego vocavi te nomine tuo, meus es tu! – Ich habe dich gerufen, ich habe dich zu meiner Kirche hingeführt, du bist mein! Gott sagt mir, daß ich sein bin! Müßte man nicht vor Liebe verrückt werden?«

Der Ruf, so der Gründer, »ist etwas so Wunderbares wie das Sich-Verlieben […]. Man muß das Herz ungeteilt, es ganz schenken, denn das Herz bleibt sonst leicht an etwas kleben« . Außerdem ist der Herr eifersüchtig: »Jesus genügt es nicht, daß man mit ihm ›teilt‹: er will alles.«

Als Josemaría im verschneiten Barbastro auf die Spuren nackter Füße im Schnee stieß, reagierte er mit einem jugendlichen, großzügigen, begeisterungsfähigen und leidenschaftlichen Herzen. So kann er sagen: »Wie schön ist es, Gott das Herz zu schenken, wenn man fünfzehn Jahre alt ist!« Er zögerte nicht, sich hinzugeben. Die Entscheidung stand fest. Auf der Stelle ließ er sich auf ein Liebesprojekt ein, auf ein göttliches Abenteuer, dessen Richtung er noch nicht kannte. Es war der Beginn eines langen Liebesabenteuers, das aus Treue, Freude und Opfer bestand und immer von Gottes Gunst begleitet war. Die Beharrlichkeit, die dieser Weg forderte, konnte unmöglich auf einer vorübergehenden Begeisterung beruhen. Sie war fest in seiner Person verankert und durch die göttliche Gnade vervollkommnet.

Seine Kühnheit bei gleichzeitiger Loslösung von allem, was sein war, führte ihn dazu, alles zu riskieren, ohne etwas zurückzubehalten. Wie der Perlenhändler, von dem das Evangelium spricht, der alles verkaufte, was er besaß, um eine wunderschöne, wertvolle Perle zu erstehen. Sich ganz der Liebe Gottes hingeben verlangte von ihm große Opfer. Er verzichtete auf seinen Traum, Architekt zu werden und eine Familie zu gründen. Er war gezwungen, unter Verleugnung seiner Neigungen dornigere Wege zu gehen und sämtliche Angebote auszuschlagen, die ihn vom Weg der Vorahnungen hätten abbringen können. Es war keine vorübergehende Laune. Es waren zehn Jahre unermüdlichen und bewußten Wiederholens dieses: »Domine, ut videam!« Nur wahrhaft Verliebte sind fähig, die liebenswerte Qual so langen Wartens durchzustehen.

Ja, er war hoffnungslos verliebt und gab sich ganz, mit Leib und Seele in die Hände Gottes. So konnte er den Rat geben, um sich Gott zu nähern, auf Christus zu schauen, seine heiligste Menschheit zu verehren. »Wir müssen christozentrisch sein: Christus in den Mittelpunkt unseres Lebens stellen.« Christus ist der Mittler, in dem Himmel und Erde sich begegnen. In Christus, dem vollkommenen Gott und vollkommenen Menschen, haben wir ein menschliches Vorbild, das göttlich ist. Wenn der Mensch durch die Gnade mit Christus eins wird, wenn er ein anderer Christus wird, vergöttlicht sich der Mensch, wird er der Schätze der Kinder Gottes teilhaftig. »Ich empfinde eine tiefe Freude bei dem Gedanken, daß Christus voll und ganz Mensch sein wollte, aus Fleisch wie wir« , heißt es an anderer Stelle. Er hat Fleisch angenommen wie das unsere. Mit einem Herzen aus Fleisch lieben ihn die Menschen. Sie begegnen Gott von Herz zu Herz.

Die Sensibilität seines Herzens erachtete Escrivá immer als natürliche Gabe, nicht als erworbene Tugend. Fragte man ihn, worin er sich als Vorbild sah, war seine Antwort: »In nur wenigen Dingen kann ich mich als Beispiel hinstellen. Doch bei all meinen persönlichen Fehlern glaube ich, daß ich mich als Beispiel hinstellen kann für einen Menschen, der zu lieben weiß.« Und wie äußerte sich seine Liebe? Ganz sicher nicht ätherisch und spiritualistisch, denn »Gott verlangt nichts Unmenschliches« . Seine Hingabe war nicht berechnend oder halbherzig. Er verglich sie eher mit gewaltsamen und sogar schamlosen Leidenschaften, und ordnete sie dem Bereich ungestümer Antriebskräfte zu: »Du sagst mir: Ja, du willst. Gut, aber willst du so, wie ein Geizhals sein Geld will, wie eine Mutter ihr Kind liebt, wie ein Streber nach Ehren verlangt, wie ein unglücklicher Lüstling nach seiner Befriedigung sucht? Nein? Dann willst du auch nicht.«

Mit der Kühnheit der Liebe bat er um ein Herz nach dem Maß des Herzens Jesu: »ein liebendes und überaus liebenswürdiges Herz, das uns bis hin zum Tode liebt und das leidet; das fähig ist zu jubeln und zu trauern; das am Lebensweg von uns Menschen Anteil nimmt und uns den Weg zum Himmel weist.« Er bat um ein Herz, um »sehr menschlich und sehr göttlich« sein zu können, eng vereint mit dem Herrn, erfüllt von Gott, so daß die Liebe Gottes durch sein Herz hindurch wirkte. Er zog seiner Liebe keine Grenzen. Er liebte mit unglaublicher Begeisterung das Himmlische und das Irdische, denn »dort, inmitten der durch und durch materiellen irdischen Dinge, müssen wir uns bemühen, heilig zu werden, indem wir Gott und allen Menschen dienen« .

Aus jener tiefen Lebenseinheit war es ihm »eine Notwendigkeit und wie ein übernatürlicher Instinkt, alle Handlungen zu reinigen, auf die Ebene der Gnade zu heben, sie zu heiligen und in Gelegenheiten der persönlichen Vereinigung mit Gott zu verwandeln, um seinen Willen zu tun, und in ein Werkzeug des Apostolats« . Escrivá gehörte zu jener Art von »kontemplativen Seelen, die ihre Zelle im Herzen tragen und die auf allen Wegen der Erde gehen, um sie durch die Heiligung der Arbeit zu vergöttlichen« . Er war schließlich ein Mann mit priesterlichem Geist und laikaler Mentalität. Und wenn er sich anfangs als »Sünder, der Jesus Christus wie verrückt liebt«, bezeichnete, fügte er jetzt hinzu: als »ein Priester Jesu Christi, der die Welt leidenschaftlich liebt« .

* * *

»Gott hat die Welt so sehr geliebt«, heißt es beim heiligen Johannes, »daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.« Mit vollkommener Loslösung stellte Escrivá alles, was er von Gott erhalten hatte, in den Dienst der Miterlösung: seine persönlichen Gaben, sein Charisma als Gründer und das Opus Dei mit seinen apostolischen Werken. Und wie eine liebende Dringlichkeit sein ganzes Leben prägt, so kennzeichnet jede seiner Äußerungen ein eigenes Timbre, in seinen Projekten lebt eine besondere Art der Inspiration, seinen Schriften ist ein unverwechselbarer literarischer Stil zu eigen, und seine Sprache geht weit über das hinaus, was eine mittelmäßige Seele im Umgang mit Gott als ›vernünftig‹ erachten würde. Denn aus den »Büchern von Feuer« sprühen glühende Liebesworte, und die Herzen brennen wie entzündete Rubine in mystischem Brandopfer.

Schon auf den ersten Seiten seiner Aphorismen Im Feuer der Schmiede hören wir das Echo des Rufes Jesu, das Escrivá vernahm: »Ich höre dich rufen, mein König, mit lauter Stimme, die mir bis ins Mark dringt: ›Ignem veni mittere in terram, et quid volo nisi ut accendatur?‹ – Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen!«

Und der Jünger antwortet mit all seinen Kräften, bereit, die ganze Welt in Brand zu setzen: »Da bin ich, weil du mich gerufen hast!« Und er bittet darum, eine lebendige Fackel zu werden: »Jesus! Stärke unsere Seele, ebne uns den Weg. Vor allem aber: Durchtränke uns mit deiner Liebe! Verwandle uns in lebendige Fackeln, die die Erde mit dem göttlichen Feuer entzünden, das du uns gebracht hast.«

»Gib, daß mein steinernes Herz sich erweichen läßt! Entflamme es! Durchdringe und läutere mein unbußfertiges Fleisch! Erleuchte meinen Verstand mit dem Licht des Himmels! Laß meinen Mund die Liebe und die Herrlichkeit Christi verkünden!«

Und um ganz sicher zu gehen, daß der Brand sich ausbreitet, bittet er die Engel, in die glimmende Glut der unter erloschener Asche begrabenen Herzen zu blasen; und er wendet sich an Maria mit der Bitte, unsere Liebe in ein loderndes Feuer zu verwandeln: »Du Mutter voller Milde! Führe uns zu einer ›Torheit‹, die es vermag, andere Menschen zu ›Toren‹ um Christi willen werden zu lassen. Maria, liebenswerte Herrin, möge unsere Liebe nicht ein trügerisches Leuchten, ein Irrlicht sein, das vielleicht nur Verwesung anzeigt, sondern eine echte Feuersbrunst, die alles, was sie berührt, in Brand setzt.«

Das Leben des Gründers darf wahrlich als das eines Mystikers inmitten der Welt bezeichnet werden, eines Mannes, der unsterblich in Christus verliebt war.

6. Das Gründungscharisma

Escrivá war zeitlebens ein Schreiber, auch wenn manches Buch aufgrund wichtigerer Gründungsaufgaben über die Planungsphase nicht hinauskam. Seine Zeitknappheit spiegelt sich auch darin wider, daß seine Bücher nicht systematisch-akademisch strukturiert sind. Es handelt sich einfach um Gedankenimpulse für Menschen, die im Trubel der Welt kontemplativ leben möchten. So bestehen Der Weg, Die Spur des Sämanns und Im Feuer der Schmiede aus lebendigen und knappen Überlegungen, die Gespräche aus Interviews und Christus begegnen sowie Freunde Gottes aus Predigten.

Einige seiner Schriften basieren auf seinen Aufzeichnungen und wurden erst posthum veröffentlicht. Die Aufzeichnungen waren vor allem Anmerkungen zu seinem inneren Leben. Sie lassen eine erstaunliche frühe geistliche Reife erkennen, die sich parallel zum Austragungsprozeß des Opus Dei entfaltet. Sie sind wie die Matrix des Geistes des Gründers und wie eine Mine, in der viele Gründungsinspirationen lagern. Letzteres interessiert uns nun, da wir nach der Rolle fragen wollen, die Escrivá einerseits und die göttlichen Eingebungen andererseits bei der Gestaltwerdung des Opus Dei spielten.

Das Opus Dei erwächst in seiner zeitlichen Entwicklung aus dem Gründungscharisma, einer besonderen Gnade Gottes, die in der Person des Gründers Gestalt annahm. Als er den Auftrag erhielt, das Opus Dei zu beginnen, verfügte er, wie er sagte, außer seinen sechsundzwanzig Jahren, der Gnade Gottes und guter Laune über sonst nichts, so daß er sich sehr wohl fragen konnte, wie sich das Charisma mit seiner Jugend und guten Laune vereinbaren lasse, das heißt: mit seiner Persönlichkeit, seinem Lebensstil, seinen Tugenden und menschlichen Qualitäten.

Auf ein solches Zusammenspiel ist jedenfalls der theologische Grundsatz anzuwenden, daß Gott die Freiheit der Person respektiert, ohne sich aufzudrängen. Escrivá seinerseits war den göttlichen Regungen gegenüber gefügig. Indem er den gewöhnlichen Eingebungen, die er zu seiner Sendung erhielt, treu folgte, verschmolz sein Wille mit dem Willen Gottes; gleichzeitig trägt all sein Denken und Handeln klar die Prägung seiner Person: ein gewaltiger Glaube und eine leidenschaftliche Liebe, Zuversicht und Lebensnähe, Großzügigkeit, Optimismus und das großartige Gefüge aller anderen natürlichen Tugenden, die ihn bereits vor der Gründung kennzeichneten.

Über das Wirken der charismatischen Gnade schreibt er im Juni 1930: »Bei meiner Suche nach Klarheit, um die Tätigkeiten der Mitglieder zusammenzufassen, scheint es, daß der Herr mich einen Lichtstrahl hat erspähen lassen: es handelt sich dabei nicht – das ist mir schon klar – um etwas Definitives, eine Erleuchtung, sondern um einen kleinen Strahl Helligkeit.« Das Licht des Gründungscharismas gewährte Escrivá also nicht fertige Lösungen in Einzelfragen, sondern Orientierung, um Mittel und Wege zur praktischen Verwirklichung des Werkes zu finden. Das wiederum verlangte von ihm den Einsatz all seiner physischen Kräfte, eine Haltung der ständigen Bereitschaft und eine Lebensführung ›wider Lust und Laune‹, während er zarte Lichtstrahlen erhielt. Die außerordentlichen Erleuchtungen, die der Herr ihm von Zeit zu Zeit schickte, ließen ihn die ›essentials‹ des Opus Dei sehen, denen er die ›Leitlinien‹ entnahm, die er dann selbständig zu entfalten hatte.

Es gab lange Zeiten, in denen der Herr ihm jegliches Licht vorenthielt, und Umstände, in denen er sich wie ein Blinder, fügsam wie ein Kind, führen lassen mußte. Eine solche Phase nahm, wie schon erwähnt, im Oktober 1928 ihren Anfang, nachdem er »die Erleuchtung über das Werk als Ganzes« erhalten hatte. »Es verging mehr als ein Jahr, ohne daß Jesus sprach, um klar zu machen, daß sein kleiner Esel«, womit er sich selbst meinte, »nur das Werkzeug war … und ein schlechtes Werkzeug dazu!« Die Gründungsarbeit geriet ins Stocken, bis Josemaría im November 1929 wieder besondere und konkrete Hilfe erhielt: es war »der Wiederbeginn jenes geistlichen Flusses göttlicher Eingebungen, damit das Werk Gottes Formen annehmen und zu dem werden konnte, was Er wollte« .

Das Opus Dei ist Gottes Werk und nicht das eines Menschen. Das verdeutlicht, worin der Beitrag des Gründers zum göttlichen Vorhaben bestand. Escrivá sah kraft übernatürlicher Erleuchtung das Wesentliche des Projekts und nahm den Samen des Opus Dei in Kopf und Herz auf. Ihm, dem auserwählten Werkzeug Gottes, kam es zu, den göttlichen Plan in dieser Welt umzusetzen. Dafür brauchte er allerdings Hilfe von oben. Er mußte unter der gebieterischen Eingebung der Gründungsgnade ans Werk gehen. Stieß er dabei auf menschlich nicht zu bewältigende Hindernisse, wartete er, bis der Herr ihm mit einem besonderen Zeichen Orientierung gab. »Gott wird zu gegebener Zeit eine Erleuchtung gewähren«, schrieb er in einem Augenblick der Bedrängnis.

Doch es ist schwierig, das richtige geistliche Gleichgewicht zu halten und sich einerseits ganz der göttlichen Vorsehung zu überlassen, ohne andererseits anmaßend zu meinen, Gott stehe einem wie ein deus ex machina zu Diensten. Das hieße Gott versuchen. Nach einem Akt des Glaubens, daß der Herr ihn zur gegebenen Zeit und auf die geeignete Weise erleuchten werde, macht sich Escrivá selbst Gedanken über die spezifische Arbeit des Werkes (unter Männern und Frauen): »Es scheint, daß ich mich hinsichtlich der Erhaltung der Werke sorge und nicht genügend Vertrauen in die göttliche Vorsehung habe. Doch so ist es nicht. So viele Male habe ich die liebende Vorsehung mit Händen greifen können! Gleichwohl darf man Gott nicht versuchen […]. Es gibt kleine apostolische Unternehmungen mit geringen finanziellen Kosten, die nicht zur Fülle gelangen, weil der Glaube, den sie angeblich an die Vorsehung haben, nicht sehr groß ist: es bedeutet Gott gleichsam zu verpflichten, ohne Notwendigkeit Wunder zu wirken.«

Um dieser falschen Auffassung von der Vorsehung nicht zu verfallen, ist es notwendig, einen großen Glauben zu haben und »alle Mittel einzusetzen, die wir (zusammen mit Gebet und Sühne) auch in einem anderen Unternehmen einsetzen würden« . Das war eines der praktischen Prinzipien, die der Gründer lebte und die er an die Gläubigen des Opus Dei weitergab: keine Wunder erwarten, wenn man nicht alle geeigneten Mittel angewandt und mit Einsatz gearbeitet hat.

In dem Maß, in dem sich das Unternehmen entwickelte, ging der Gründer daran, »das Werk zu Papier zu bringen und ihm Gestalt zu verleihen«, wie er in aller Bescheidenheit festhält.

* * *

Es war die erste Stunde der Gründung. Escrivá hatte in Madrid noch keinen festen Beichtvater und auch niemanden, dem er sein Herz hätte öffnen können. Was er damals seinem Heft anvertraute, waren Gedanken und Anregungen, die er allein mit Gott in dessen Gegenwart erwog.

Es darf daran erinnert werden, daß die Aufzeichnungen erst ab Mitte März 1930 erhalten sind, also einen Monat nachdem Escrivá seine Überzeugung, es werde nie Frauen im Opus Dei geben, revidieren mußte. Was dem aufmerksamen Leser der Aufzeichnungen als erstes ins Auge springt, ist daher die Promptheit, mit der Escrivá Frauen in alle seine apostolischen Projekte integriert und ihnen nicht ohne Kühnheit spezifische Tätigkeitsfelder zuweist. Von Anfang an sind sie den Männern gleichgestellt. Zweifelsohne hatte ihn die Erkenntnis, daß der Herr auch Frauen im Opus Dei haben wollte, sehr bewegt, und er hatte sie dankbar angenommen.

Der Gründer sah für die Männer und Frauen des Werkes, für »die einen und die anderen«, als Aufgabe, »die ganze Gesellschaft vor der Verderbnis zu bewahren«. Dies mit der Freude, die Gesellschaft zu vervollkommnen, zu heilen und vom Schorf zu reinigen. Er stellte sich die Gesellschaft wie eine Patientin vor, die das Heil Christi wiedererlangt, nachdem sie sich einer modernen und wirksamen Behandlung unterzogen hat – nämlich gleichsam »intravenösen Injektionen, die eben jene (Männer und Frauen) sein werden, die […] im Kreislauf jeder sozialen Schicht wirksam werden« .

Zusätzlich zum allgemeinen Apostolat der Gläubigen des Opus Dei aus dem Inneren der Welt heraus – ohne den eigenen Platz zu verlassen, ohne den Beruf an den Nagel zu hängen oder den Stand zu wechseln – weist der Gründer auch auf einige spezifische Apostolate der Frauen hin. In einer Anmerkung vom 13. März 1930 spricht er vom Apostolat der Frauen des Werkes, die aus verschiedenen Ländern kommen und verschiedene Sprachen sprechen, und notiert die mögliche Schaffung eines Instituts, einer »Akademie für lebende Fremdsprachen«, die »wie andere Unternehmen dem Staat Steuern zahlt und in der die Schülerinnen ebenfalls zahlen. Nichts kostenlos.« Escrivá wollte keine Privilegien für die künftigen apostolischen Werke. Sie sollten auch nicht als gemeinnützige Unternehmen konzipiert werden, nur um den Steuern zu entgehen, es sei denn, es gab eine legale Basis dafür. Die Gläubigen des Opus Dei waren gewöhnliche Bürger, mit den gleichen Rechten und Pflichten wie die anderen Bürger, nicht mehr und nicht weniger.

Als 1933 die erste körperschaftliche Initiative des Opus Dei, die Akademie DYA, ins Leben gerufen wurde, war Escrivá sehr darauf bedacht, eine zivile Einrichtung zu schaffen. Seine laikale Mentalität, ein Grundzug des Opus Dei, forderte es, die Prinzipien, die er für die »Akademie für lebende Fremdsprachen« genannt hatte, auf sie anzuwenden. Keine Privilegien. Er zahlte die von der öffentlichen Verwaltung geforderten Steuern und wollte die gleichen Rechte beanspruchen können wie andere Akademien. In diesem Zusammenhang sei nochmals daran erinnert, daß der Gründer vor der Eröffnung von Strathmore College 1961 in Nairobi ausdrücklich wünschte, auch Nicht-Katholiken und Nicht-Christen den Zugang zum College zu ermöglichen. Eine konfessionelle Bindung kam nicht in Frage.

In jener ersten Zeit, als noch alles zu tun war, machte sich der Gründer Gedanken, wie vorzugehen wäre, wenn nach einigen Jahren noch keine Priester für die geistliche Betreuung der Frauen und die Spendung der Sakramente zur Verfügung stünden. In den ländlichen Zentren, schreibt er in seinen Aufzeichnungen, »soll eine Vereinbarung mit dem Pfarrer getroffen werden – mit angemessener und großzügiger Vergütung –, nach der er täglich zu festgesetzter Stunde in das Haus des Werkes kommt« . Und in den städtischen Zentren »soll es gut bezahlte Kapläne geben«. Und er erklärt: »Diese Kaplanstellen sollen wirklich angemessen eingerichtet sein, so daß in jeder Hinsicht gut gebildetes Personal ausgewählt werden kann.«

Mit dem Pfarrer soll auch, so der Wunsch des Gründers, monatlich ein feierlicher Segen mit dem Allerheiligsten für die Frauen des Werkes vereinbart werden. Für die entsprechenden Vorbereitungen rät er den Frauen: »Sie sollen dem Herrn gegenüber großzügig sein: viele Kerzen aus gutem Wachs, kostbare Monstranz und Gewänder, glühende Andacht, viel Gebet.«

Neben solchen Überlegungen, die der Glaube des Gründers zu einer vorweggenommenen Wirklichkeit werden ließ, notierte er priesterliche Erfahrungen und Beobachtungen. Er stellte traurig fest, daß Menschen sich der Kirche entfremdeten, da sie nicht an den Andachten teilnehmen konnten, die zu Zeiten stattfanden, in denen sie ihrer Arbeit nachzugehen oder in ihrem Geschäft zu sein hatten. Dabei wäre es wichtig, für diese Menschen die liturgischen Feiern in der Pfarre anziehend zu gestalten. Man sollte ihnen den Empfang der Sakramente erleichtern und durch eine entsprechende Atmosphäre die irrtümliche Ansicht Lügen strafen, die Kirche sei nur etwas für Frauen. In einer Gesellschaft, die sich ständig weiter von Gott entfernt, versuchte Escrivá der Religion ein Gesicht zu geben, das auf Interesse stieß und anzog. Mit vier Worten faßte er sein Aktionsprogramm zusammen: »würden ein männlich-strenger Ton, Kunst, Pünktlichkeit und eine ernste und nüchterne Frömmigkeit herrschen, so bin ich sicher, daß die Menschen darauf reagieren werden« .

Um ein ästhetisches Klima männlicher Strenge zu schaffen, sollte zuerst der süßliche und kitschige Kram aus den Kirchen entfernt werden und in die sakrale Kunst wieder guter Geschmack Eingang finden. Escrivá hatte Sinn für liturgische Schönheit und wehrte sich gegen die vorherrschende Geschmacklosigkeit: »Viel elektrisches Licht am Altarbild und selbst im Bereich des ausgesetzten Allerheiligsten. Kulissen und Vorhänge wie auf einer Provinzbühne. Künstliche Blumen aus Stoff und Papier. Kitschige Gipsfiguren. Weibisches Spitzenzeug an Alben und Altartüchern. Häßlichste Gefäße …«

Der hl. Josefmaria hatte ein Herz für die Jugend

Die Aufzeichnungen quellen über von Ideen, apostolischen Anregungen, praktischen Lösungen und ästhetischen Überlegungen. Die verschiedenen Themen, 1930 erst im Ansatz vorhanden, entfalteten sich im Laufe der Jahre. Wir sind nun in der Lage, ihren direkten Zusammenhang mit dem inneren Leben Escrivás, wie es sich in den Aufzeichnungen findet, deutlich zu erkennen. Hier liegt der fruchtbare Anfang der künftigen Entfaltung des Werkes.

Seine eucharistische Frömmigkeit zum Beispiel äußert sich in der ästhetischen und würdevollen Gestaltung von Kirchen und Kapellen, in wertvollen Monstranzen und liturgischen Gefäßen, in der Sauberkeit von Altartüchern und liturgischer Wäsche, in der treuen Befolgung der liturgischen Vorschriften. Seinem Glauben gemäß ließ er es beim eucharistischen Kult an nichts fehlen und flößte seinen Kindern in Wort und Beispiel die Andacht zum Allerheiligsten Sakrament ein. Bis zur materiellen Vergütung der Diener des Herrn erwies sich Escrivá dankbar und freigebig. Als er an die Herausgabe einer Zeitschrift für Priester dachte, machte er allerdings eine kleine Einschränkung: Sie sollte »sehr billig, aber nicht gratis« sein.

Und sollten Frauen des Werkes die Wäsche und die Vorbereitungen für die Liturgie in einer Pfarre übernehmen, wies er sie an, nicht zu vergessen, »die Hostien und den Wein für das Meßopfer fast gratis, aber nie umsonst, nicht kostenlos!« beizusteuern – ein Prinzip, das er bereits für die mögliche Sprachenschule der Frauen festgelegt hatte.

Und wenn ein Studien- oder Bildungskreis für Leute mit bescheidenen Mitteln zu halten ist, soll dafür gesorgt werden, so der Gründer, daß die Räumlichkeiten für die Zusammenkünfte ihrem Niveau entsprechen: Sie sollen sich »in aller Einfachheit wohlfühlen können, aber nichts umsonst« bekommen.

Warum so viele Einschränkungen? Warum eine so starke Betonung des »nichts kostenlos«? Escrivá scheint seiner natürlichen Neigung zur Großzügigkeit absichtlich entgegenzuhandeln, aber nicht aus Geiz. Der Grund ist in einer alten Volksweisheit zu suchen, die er so wiedergibt: »Wir Menschen sind so beschaffen, daß wir das, was kein Geld kostet, geringschätzen. Daher: nichts umsonst.«

Ende August 1930 heißt es nochmals in den Aufzeichnungen: »Schon andere Male wurde als feststehendes Prinzip des Werkes Gottes bestimmt, daß nichts umsonst sein soll. Und so, glaube ich, soll es sein.« Mit der Zeit wandelte sich das Prinzip des »nichts umsonst« in eine neue, höhere Kategorie: in das Apostolat »des Nicht-Gebens« , was Escrivá auch so formulierte, im Apostolat den gesunden Menschenverstand walten zu lassen . Das Prinzip beruht auf einer taktvollen Nächstenliebe. Denn wer von einer wohltätigen oder Bildungseinrichtung profitiert und sie mit einem kleinen Beitrag unterstützt, kann guten Gewissens sagen, zum Unterhalt der Einrichtung beizutragen. Folglich können sie die Anlage und die Dienstleistungen als etwas Eigenes betrachten. Möglicherweise merkt der Betreffende gar nicht, daß er alles fast gratis erhält. Doch sein kleines finanzielles Opfer erspart ihm diese mögliche Demütigung, er nützt, was ihn ein wenig Geld kostet, besser aus und weiß es zu schätzen.

Es handelt sich offensichtlich um eine praktische Regel, die aus dem Vorsatz entstand, eine optimale apostolische Wirksamkeit zu suchen; sie ist aber auch Ausdruck einer authentischen laikalen Mentalität, die das Apostolat Escrivás kennzeichnen sollte. Denn die geschichtliche Verwirklichung des Opus Dei, seine Verwurzelung in der Welt ist kein abstrakter Vorgang in einer theoretischen Gesellschaft, sondern die Verchristlichung der Gesellschaft von innen her, so wie der Sauerteig die Masse oder eine intravenöse Injektion den Organismus eines Kranken durchwirkt. Mit solchen Prinzipien versuchte der Gründer die neue theologische und pastorale Wirklichkeit, die sehr bald Gestalt annehmen würde, in die richtigen Bahnen zu lenken.

Neben dem »Apostolat des Nichtgebens« praktizierte er das »Apostolat des Gebetes«, das »Apostolat ad fidem«, das »Apostolat des Mahles«, das Briefapostolat, das Apostolat der Lehre, der Diskretion, das Apostolat unter Intellektuellen, das des Leidens; schließlich das »Apostolat der Unterhaltung«, das »Apostolat des Beispiels«, ja in den Jahren, in denen er in den Studentenheimen Arbeiten im Haushalt übernehmen mußte, auch das »Apostolat der Apostolate«. Diese verschiedenen Facetten seines Apostolates kosteten enorm viel Zeit und Kraft, mehr als er hatte. Auf seine Unzulänglichkeit als Werkzeug in den Händen Gottes Bezug nehmend, schrieb er im Dezember 1931: »Als ich gestern einen bestimmten Vermerk im ersten Buch der Aufzeichnungen las, wurde mir das Ausmaß meiner Unkenntnis des geistlichen Lebens bewußt. Und dieser bedauerliche Umstand, Jesus, ließ mich mit mehr Liebe zu dir kommen, so wie man den Künstler mehr bestaunt, der mit einem groben und unverhältnismäßigen Werkzeug ein bewundernswertes Werk schafft.«

Das Opus Dei verwirklichte sich »im Schrittmaß Gottes«. Oft fand Escrivá keine Lösung, da es keine gab – etwa im Fall der juristischen Gestalt des Werkes. Andere Male, wenn eine außergewöhnliche Erleuchtung ausblieb, handelte er fast wie blind, bewegt von der Gnade und einer vagen Vorstellung, die allmählich Form annahm, wie Gegenstände mit zunehmendem Licht Gestalt annehmen. Ein unverhofftes Wunder, das ihn veranlaßte, sich zur vollkommen göttlichen Autorenschaft der Gründung zu bekennen: »Es erschreckt mich, wenn ich sehe, was Gott bewirkt: ich habe mir nie die Werke, die der Herr inspiriert, so vorgestellt, wie sie dann Gestalt annehmen. Am Anfang steht deutlich eine vage Vorstellung. Und dann ist er es, der aus diesen formlosen Schatten etwas klar Umrissenes, Bestimmtes und Gangbares gemacht hat.«

Wahrscheinlich war es in den letzten Junitagen des Jahres 1930, als Escrivá alles, was er zum Geist, zur Organisation und zu den apostolischen Einrichtungen notiert hatte, so zusammenfaßte: »Der Herr möchte mich eine gute Zeit lang demütigen, damit ich mich nicht für einen Übermenschen halte, damit ich nicht glaube, daß die Gedanken, die von ihm sind, von mir stammen, damit ich nicht denke, daß ich die Bevorzugung, sein Werkzeug zu sein, verdiene … Und er ließ mich sonnenklar sehen, daß ich elendig bin, fähig zum Schlimmsten, zum Gemeinsten.«

Und indem er seine früheren Anmerkungen mit Staunen durchgeht, ruft er in den Aufzeichnungen aus: »Niemals konnte ich ahnen, daß aus dem Festhalten der Eingebungen ein solches Werk entstehen würde […]. Niemand kann es besser wissen als ich, daß alles, was daraus entsteht (niemals habe ich mir das so ausgedacht), von Gott ist.«

Das alles geschah ganz am Anfang, als der Vater sein Leben noch vor sich hatte, um dem Werk seine Gestalt zu geben. Darauf verwandte er viele mühevolle Jahre. Wenn sich die großen historischen Gestalten durch den Dienst an einer hohen Sache definieren, können wir vom Gründer sagen, daß der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit im innigen Umgang mit dem Herrn der Geschichte zu finden ist, denn die Gründung des Opus Dei ist etwas, was sich zwischen Gott und ihm zugetragen hat.